DEUTSCHLAND
32 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022
Michel unbedingt dazu einladen. Dabei war
klar, dass die Kommission die Gespräche füh-
ren würde.
Es gab einiges an Hin und Her, schließlich
verkündete Michel per Twitter die Video-
konferenz und verschickte kurz darauf auch
die Einwahldaten. Die Kommission, eigent-
lich zuständig, verschickte ihrerseits eine of-
fizielle Einladung. Am Ende hatte Johnson
zwei Einladungen auf dem Tisch. Die EU
stand blamiert da. Kurz darauf quittierte Mi-
chels Büroleiter seinen Job.
Schon früheren Ratspräsidenten ist es nicht
leicht gefallen, die Beschränkungen ihres
Amts zu akzeptieren. Aber sie waren klug
genug, um sich mit ihren Kollegen aus der
Kommission von vornherein auf eine Arbeits-
teilung zu verständigen. »Praktische Abspra-
chen zwischen Präsident Van Rompuy und
Präsident Barroso über die externe Vertre-
tung der Europäischen Union auf Präsiden-
tenebene«, hieß die Vereinbarung, die Mi-
chels Landsmann Herman Van Rompuy mit
dem damaligen portugiesischen Kommis-
sionschef schloss. Auch die Nachfolger Do-
nald Tusk und Jean-Claude Juncker legten
ihre Aufgabenteilung schriftlich nieder.
Zwischen Michel und von der Leyen gibt
es nichts dergleichen. Sie haben lediglich ver-
einbart, sich einmal wöchentlich zu treffen,
um ihre Vorhaben zu koordinieren. Häufig
findet einer der beiden einen Grund, den Ter-
min abzusagen.
Michel glaube, von der Leyen agiere nicht
auf einer Ebene mit ihm, so sagen Leute, die
ihn kennen. Er war Regierungschef, sie ledig-
lich Verteidigungsministerin. Sie stand vor
dem Ende ihrer politischen Karriere, bevor
sie das Amt in Brüssel bekam. Das Problem
für Michel ist nur: Ursula von der Leyen ist
die mächtigste Politikerin in Brüssel und
pflegt diese Rolle auch.
Sie war nicht umsonst das einzige Kabi-
nettsmitglied, das Angela Merkel von Beginn
ihrer Kanzlerschaft an begleitet hatte. Die
CDU-Frau hat ein Gespür für Macht und da-
für, wie man diese Macht erhält. Und sie ist
in der Lage, die Provokationen Michels mit
eigenen Spitzen zu kontern.
In ihrer Rede zur Lage der Union am
- September in Straßburg sagte von der Ley-
en, dass sie gemeinsam mit Macron zu einem
Gipfel zur europäischen Verteidigung einla-
den werde. Das war ein kalkulierter Affront
gegen Michel. Für Einladungen zu Gipfeln ist
er zuständig, nicht die Kommission. Nach
Angaben von EU-Diplomaten habe Michel
getobt, als er die Rede gehört habe.
Von der Leyen spielt die Machtspielchen
ihres Rivalen mit. Das ist aus ihrer Sicht viel-
leicht nachvollziehbar. Klug ist es deshalb
noch nicht.
Ende Oktober, fünf Tage nach einem EU-
Gipfel, treffen sich wie üblich die Botschafter
der Mitgliedstaaten, um die Ergebnisse zu
besprechen. Michel ist nicht anwesend, aber
sehr präsent. Der schwedische Botschafter
klagt, die Tagesordnung für das Treffen sei
wieder viel zu spät verschickt worden. Die
Balten beschweren sich, dass das Thema
Migration nicht gut vorbereitet gewesen sei.
Die Vertreter anderer osteuropäischer Staaten
finden, Michel hätte mehr Vorarbeiten zu Be-
larus leisten müssen.
»Die Kritik an Michel wird immer lauter«,
sagt ein EU-Diplomat. »Er hat als belgischer
Premierminister fünf Jahre Konflikte dadurch
neutralisiert, dass er auf Zeit gespielt und Ent-
scheidungen verhindert hat. In der EU kommt
man mit dieser Methode nicht weiter.«
Für Michel scheint der ausweichende Poli-
tikstil genau der richtige zu sein: Er genießt
es, sich unter den Staats- und Regierungschefs
zu bewegen. Diese Atmosphäre will er nicht
dadurch stören, dass er Konflikte anspricht.
Sein Gefühl der Zugehörigkeit wird nicht
von allen erwidert. Dänemarks Ministerprä-
sidentin Mette Frederiksen zum Beispiel,
unter den Kolleginnen und Kollegen für ihre
zupackende Art bekannt, schnauzte Michel
schon mal an: »Charles, so läuft das jetzt
nicht.«
An den schwierigen Entscheidungen be-
teiligen die Regierungschefs den Ratspräsi-
denten häufig nicht. Als während der deut-
schen Ratspräsidentschaft über diffizile The-
men wie den EU-Haushalt und den neuen
Rechtsstaatsmechanismus verhandelt wurde,
drängten sich im deutschen Delegationsbe-
reich unter anderem die Bundeskanzlerin,
Emmanuel Macron, der ungarische Minister-
präsident Viktor Orbán, die Regierungschefs
von Litauen und den Niederlanden und Ursu-
la von der Leyen.
Charles Michel, der Mann, der den Kom-
promiss eigentlich hätte vorbereiten sollen,
fehlte in den entscheidenden Phasen der Ge-
spräche.
Er dürfte trotzdem weiter im Amt bleiben.
Michel gehört zur liberalen Parteienfamilie
und steht unter dem Schutz des französischen
Präsidenten. Das ist die Crux bei den Perso-
nalpaketen, die in der EU unter Berücksich-
tigung von Nationalität, Parteizugehörigkeit
und Status des Jobs geschnürt werden. Sie
lassen sich nicht wieder aufschnüren.
»Solange Michel macht, was Macron
wünscht, ist er sicher«, sagt ein Diplomat.
»Das Schauspiel wird weitergehen.«
Ursula von der Leyen
spielt Michels Machtspiel-
chen mit. Das ist aus
ihrer Sicht nachvollziehbar,
aber nicht klug.
EU-Spitzen
SQuelle: EU
Institutionen der EU und die
Aufgaben ihrer Präsidenten
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wählen Parlament
Europäisches
Parlament
Aufgaben
- Gewährleistung der ordnungsgemäßen
Einhaltung parlamentarischer Verfahren - Beaufsichtigung der Aktivitäten und
Ausschüsse des Parlaments - Vertretung des Parlaments in allen
Rechtsfragen und in internationalen
Beziehungen - endgültige Genehmigung des
EU-Haushalts
David-Maria Sassoli
Juli 2019 bis Jan. 2022*
Gewählt von den Mitgliedern
des Europäischen Parlaments
bilden Mitgliedstaaten nominieren EU-Kommissare
Europäische
Europäischer Rat Kommission
Aufgaben
- leitende Funktion bei der Festlegung der
allgemeinen politischen Ausrichtung
und der Prioritäten der EU in Zusammen-
arbeit mit der Kommission - Förderung von Zusammenhalt und
Einvernehmen innerhalb des Euro-
päischen Rates - Vertretung der EU nach außen
und in Sicherheitsfragen
Aufgaben
- politische Führung der Kommission
- Einberufung und Leitung der Sitzungen
der Kommissionsmitglieder - leitende Funktion bei der Umsetzung
der EU-Politik durch die Kommission - Teilnahme an G-7-Tagungen
- Beteiligung an Grundsatzdebatten im
Europäischen Parlament sowie zwischen
den Regierungen der EU-Länder im
Rat der Europäischen Union
Charles Michel
Amtszeit
Dez. 2019 bis Mai 2022
Ernannt von den Staats- und
Regierungschefs der EU-Länder
Ursula von der Leyen
Dez. 2019 bis Okt. 2024
Ernannt von den Staats- und Regierungschefs der
EU-Länder mit Zustimmung des EU-Parlaments
* Nachfolgerin wird vermutlich Roberta Metsola (Malta)
Ralf Neukirch n
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