Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
hatte mir erklärt, dass er eben Deutscher
sei und deshalb gern mit den Nationalfarben
für seinen »deutschen Liederabend« werbe.
Ich hatte daraufhin geschrieben, dass Heino
schon immer gern provoziert habe, etwa
als er Stücke sang, die man auch in einem
»Liederbuch der SS« findet. Stahnke schaute
mich väterlich an. Er sagte: »Entschuldigung,
aber was Sie hier schreiben, ist dummes
Zeug.«
Er fragte mich, wie irgendjemand ernsthaft
kritisieren könne, dass Heino das Wort
»Deutsch« und die Nationalfarben verwende.
Dann begann Stahnke einen Monolog. Er
sagte, dass 16 Jahre Merkel dem Land schlecht
getan hätten, und redete von Mehltau. Er
lobte Gerhard Schröder, der auch mal ange-
eckt sei, aber bei dem man wenigstens ge-
wusst habe, wofür er stehe. Er sagte, dass der
SPIEGEL geschlafen habe in den vergangenen
zehn Jahren, dass es zu wenig Kritik gegeben
habe in der Finanz- und Flüchtlingskrise, bei
der Griechenlandrettung und dem Leitzins.
Dass er eine politische Korrektheit im Heft
bemerke und dass die ihn nerve. Stahnke fand,
dass die meisten deutschen Medien inzwi-
schen eine ähnliche Meinung verträten, näm-
lich links und grün, und dass der SPIEGEL
immerhin noch das letzte Magazin sei, dass
man halbwegs lesen könne.
Ich dachte an den 30-jährigen Stahnke, auf
den ich mich vorbereitet hatte. Ich stellte mir
vor, wie wir uns beim Espresso einig gewesen
wären über die Flüchtlinge und Europa und
Heino. Es wäre einfach gewesen. Ein Mittag
in Mehltau.
Stahnke und ich unterhielten uns fast an-
derthalb Stunden. Wir stritten. Wir gingen
die Texte durch. Am Ende gaben wir uns die
Hand und versprachen, in Kontakt zu bleiben.
Er würde sich melden, wenn ich wieder dum-
mes Zeug schriebe. Ich sagte: »Danke, Herr
Stahnke.« Und ich meine es so.

Zuletzt war Karl-Heinz Groth, 82, Schulleiter
in Wyk auf Föhr und Eckernförde, 2003 wur-
de er pensioniert, er lebt nun in Goosefeld
in Schleswig-Holstein. Den ersten SPIEGEL
las er 1958, bei einem Schulausflug legte
ihn ein Lehrer vor seine Tür, verbunden
mit einer Mahnung: Er brauche ihn morgen
früh zurück. In seinem Wohnzimmer: ein
Stapel aus zehn, vielleicht zwölf Heften, er
hat Artikel markiert, die er unbedingt noch
lesen will. Auf einem Beistelltisch liegen Stift
und Zettel bereit, für Notizen. Groth kann
durchs Fenster hinausblicken in seinen Gar-
ten, aber wenn er den SPIEGEL liest, dreht
er seinen Sessel zur Wand. Er möchte sich
konzen trieren.
Sein Verhältnis zum Blatt beschreibt er so:
»Der SPIEGEL ist für mich, dank seiner bei-
spielhaften Dokumentation, eine unverzicht-
bare Informationsquelle und zugleich auch
Auslöser eigener Geschichten.
Vor ein paar Jahren beispielsweise, die Re-
portage über einen Obdachlosen, der bei nahe
in einem Müllcontainer umgekommen wäre.

Das hat mich angerührt. Ich habe daraus eine
Erzählung gemacht, auf Plattdeutsch. Sie ist
später in einigen Büchern veröffentlicht wor-
den. Ich kriege bei der SPIEGEL-Lektüre viele
Ideen. Sie sind irgendwo im Heft versteckt. Ich
habe immer Sorge, dass ich etwas übersehe.
Was mich zornig gemacht hat: der Umgang
des SPIEGEL mit der Relotius-Affäre. Ich fand,
die Redaktion hat sich zu stark das Büßer-
gewand umgelegt.
Häufig schicke ich einen Leserbrief, weit
mehr als 100 waren es in den vergangenen
20 Jahren. Außerdem schreibe ich manchmal
an die Autoren. Ich habe noch keinen erlebt,
der nicht reagiert hätte. Die Leserbriefe
schreibe ich eigentlich für mich. Vielleicht
auch für die Redaktion, nicht für andere Leser.
Manchmal habe ich beim Schreiben ein ko-
misches Gefühl. Dann lege ich den Brief bei-
seite, lese ihn am nächsten Tag noch einmal,
ändere etwas oder streiche ihn ganz. Kritik
sollte immer aufbauend sein.«

Der SPIEGEL kommt aus Westdeutschland,
war aber auch wichtig für diejenigen in der
DDR, die ihn bekommen konnten. Er beglei-
tete nah und ausführlich die Wiedervereini-
gung 1989 – und wird trotzdem dem Osten
nicht gerecht, das ist der Vorwurf seit Jahren.
Wie sehen das Leserinnen und Leser im Osten?

Marlies Däberitz, 69, Leipzig, Journalistin im
Ruhestand:
SPIEGEL: Frau Däberitz, Sie sagen, Sie seien
eine treue Leserin, die aber ab und zu nicht
mehr so treu ist. Sie gehen also manchmal
fremd am Kiosk?
Däberitz: Ich bin – vielleicht ist das der bes-
sere Ausdruck – eine kritische Leserin. Ich
suche mir allerdings keine Alternative mehr,
ich finde sie nicht. Jeden Samstag gehe ich
zum Kiosk, greife zum SPIEGEL und gucke

ins Inhaltsverzeichnis. Und bin immer traurig,
wenn ich das Heft nicht mitnehme.
SPIEGEL: Wovon hängt die Entscheidung ab?
Däberitz: Ich lege das Heft zurück, wenn die
Politikthemen mehr als die Hälfte einer Aus-
gabe füllen.
SPIEGEL: Der SPIEGEL ist ein Nachrichten-
Magazin.
Däberitz: Ich weiß, aber Politikerporträts und
Interviews dienen oft der Selbstdarstellung,
egal wer sie führt oder wie man sie führt. Da-
von wünsche ich mir weniger im Blatt.
SPIEGEL: Sagen wir, der SPIEGEL bringt we-
niger über Politik – was sollte stattdessen ins
Heft? Mehr Gesundheitsthemen?
Däberitz: Um Gottes willen, nein. Ich habe
aufgehört, den »Stern« zu lesen, weil er mitt-
lerweile zu sehr auf Wellness und Selbstfindung
abhebt. Was ich vermisse, ist der ostdeutsche
Alltag. Wenn über den Osten berichtet wird,
geht es meist ums sogenannte Dunkeldeutsch-
land. Man sollte den Osten nicht nach denen
beurteilen, die laut sind. Ich beginne die Lek-
türe immer von hinten, lese den Hohlspiegel,
dann die Leserbriefe. Da habe ich so eine
Marotte, ich zähle jedes Mal, wie viele Briefe
aus den östlichen Bundesländern dabei sind.
SPIEGEL: Und?
Däberitz: Manchmal sind es weniger als die
aus Österreich oder der Schweiz. Da frage ich
mich, gibt es im Osten keine SPIEGEL-Leser,
haben sie keine Meinung, oder regen die The-
men zu wenig zum Schreiben an? Oder Ihre
Rubrik »Familienalbum«, die ich sehr mag.
SPIEGEL: Was ist damit?
Däberitz: Da kommen das ostdeutsche Leben,
die DDR-Zeiten kaum vor.
SPIEGEL: Die Rubrik lebt größtenteils von den
Zuschriften, die wir von Leserinnen und Le-
sern bekommen. Haben Sie uns mal was rein-
geschickt?
Däberitz: Nein. Ich verstehe Ihren Punkt.

Leserin Däberitz, Ehemann: »Politikerporträts dienen oft der Selbstdarstellung«

Maurice Weiss / DER SPIEGEL

Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 57

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