Ulrich Backmann, 76, Kuhhorst in Branden-
burg, ehemaliger Journalist: »Meinen ersten
SPIEGEL habe ich 1967 gelesen, mit 22 Jahren,
da war ich noch Student. Ich hab mich mit
meinem Bruder am Balaton in Ungarn ge-
troffen, er kam aus West-Berlin, ich kam aus
Ost-Berlin. Er kam mit einem VW-Bus an-
gefahren und hatte 20 alte SPIEGEL-Hefte
dabei. Die habe ich mitgenommen in die DDR
und sie alle gelesen.
Später beim »Magazin«, für das ich ge-
schrieben habe, hatten wir dann auch immer
eine Ausgabe. Die bekam zuerst der Chef-
redakteur, und dann ging sie rum. Ich habe
immer mit einer gewissen Ehrfurcht gelesen.
Das Aufmüpfige, Rotzige, Distanzierte, das
gefiel mir. Das ist heute nicht mehr so,
schade.
Als ich Rentner wurde, sind wir nach
Kuhhorst gezogen, 100 Einwohner. Aber
ein sehr lebendiges Dorf, wir haben einen
Ökohof, eine Dorfkneipe und einen Kultur-
verein, in dem ich mitarbeite. Eine Weile
habe ich den SPIEGEL immer mit zwei oder
drei Tagen Verspätung bekommen. Das hat
mich ge ärgert, aber unsere Postzustellerin
kennt einen Trick. Auf meinem SPIEGEL-
Abo steht jetzt ein anderes Dorf als Adresse.
Nun bekomme ich jeden Samstag meinen
SPIEGEL.
Wenn der SPIEGEL sich dem Osten zuwen-
det, wird es zuweilen onkelhaft. Dass der
SPIEGEL ein westdeutsches Medium ist,
merkt man auch an der Berichterstattung über
das deutsch-russische Verhältnis. Der Kalte
Krieg steckt dem Heft noch in den Kleidern.
Mit nicht differenzierter und einseitiger Dar-
stellung kennt sich ein Ostler aus.«
Daniel Perschke ist 50 Jahre alt und Einkäu-
fer für einen Automobilzulieferer. Er hat den
SPIEGEL gekündigt, und das nicht zum ersten
Mal. Er wohnt in Brandenburg, 50 Meter hin-
ter dem Ortsschild von Berlin.
Daniel Perschke ist bestens gelaunt. Ist er
fast immer. Seit den Neunzigerjahren liest
Perschke den SPIEGEL. Er ist »Ossi«, so
sagt er selbst. Bei jeder Preiserhöhung des
SPIEGEL hat er bisher gekündigt. Also fast
gekündigt. Er hat angerufen. Über die Preis-
erhöhung gemurrt. Irgendwas von Kün-
digung gemurmelt. Und auf ein Angebot
gewartet.
»Das ist mein Einkäufer-Gen«, sagt er.
»Ich war immer zufrieden mit dem SPIEGEL.
Aber das muss ich machen: ein besseres An-
gebot verhandeln.« Hat immer geklappt. Mal
gab’s einen Warengutschein, mal eine kleine
Prämie, mal Aufschub, ein Sonderheft – ir-
gendwas war immer drin, und Perschke war
wieder dabei. Bis zum letzten Mal. Da haben
sie ihn einfach gehen lassen. »Dann müssen
Sie eben kündigen«, hieß es. Er war richtig
enttäuscht. »Der SPIEGEL hat mir direkt ge-
fehlt«, sagt er.
Er liest alles, jeden Artikel. Zu einigen The-
men hat er andere Meinungen, andere Er-
kenntnisse, aber das findet er gerade gut:
»Was ich selbst denke, brauche ich ja nicht
noch mal zu lesen«, sagt er. »Spannend ist
doch gerade das andere.«
Wenn er irgendwas bemängeln sollte: »Das
Gendern«, sagt er. »In einem Artikel hieß es:
Die Leser sollten dazu befragt werden, wenn
ich mich recht erinnere. Aber dann wurde
nicht gefragt. Vielleicht habe ich es verpasst.
Glaub ich aber nicht.« Jetzt sei die Regelung
undurchsichtig. »Mir scheint, jeder Redakteur
macht es anders.« Er ist gegen das prinzipiel-
le Gendern: »Die Frauen sind doch selbstver-
ständlich mitgemeint.«
Ein anderer Kritikpunkt: Der Osten kom-
me zu wenig vor. »Und wenn, dann nur als
Gegenstand der Betrachtung, nicht als Sub-
jekt.« Kann man nicht genauso sagen: Wenn
wir schreiben, ist der Osten immer mitge-
meint? Er lacht.
Vor Kurzem ist der SPIEGEL dann doch
weich geworden. Hat ihn angerufen. Ihm ein
Angebot gemacht. Jetzt ist er wieder dabei.
Der Auftrag des SPIEGEL, so sah es Rudolf
Augstein, war von Anfang an nicht nur die
Berichterstattung – er sollte mehr sein, ein
»Sturmgeschütz der Demokratie«. Das klingt
nach Nachkriegsdeutschland. Braucht es das
heute noch?
Friedrich Kortüm, 86, Hohenlockstedt, Leiten-
der Regierungsdirektor a. D.: »Meines Erach-
tens ist der SPIEGEL im Laufe der Zeit zah-
mer geworden. Ich vermisse die Auseinander-
setzung mit den Parteien, die Auseinander-
setzung mit der bundesstaatlichen Ordnung.
An eine Kün digung meines Abos habe ich
aber nie gedacht. Ich halte den investigativen
Journalismus für unabdingbar. Denken be-
deutet für mich auch Verknüpfung. Und ver-
knüpfen kann man nur, was man verinnerlicht
hat. So gesehen dient der SPIEGEL auch der
Per sönlichkeitsbildung und der Demokrati-
sierung der Gesellschaft.«
Anny Yiu, 31, Berlin, Juristin: »Ich denke oft
an Hongkong zurück, an den Regen und die
Wolkenkratzer, an meine Familie und an das
Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich bin
in Hongkong geboren. Als ich noch Studen-
tin war, vor elf oder zwölf Jahren, schlen-
derte ich oft durch die internationalen Buch-
und Presseläden in der Innenstadt. Ich las
Überschriften in fremden Sprachen, sah Bil-
der von Orten, an denen ich nie war. Ich
kaufte manchmal amerikanische Zeitschrif-
ten, das ›Time Magazine‹ und den ›New Yor-
ker‹, hin und wieder kaufte ich den ›Guar-
dian‹ aus London. Immer öfter kaufte ich
den SPIEGEL.
Der SPIEGEL kostete damals 100 Hong-
kong-Dollar, das waren etwa zehn Euro. Ich
besuchte Deutschkurse und las das Magazin
von vorn bis hinten. Natürlich verstand ich
nicht alles, am Anfang fast gar nichts. Aber
ich lernte die Sprache durchs Lesen. Mir gefiel
das Seriöse am SPIEGEL. Er ist wie ›Time‹ aus
Amerika, nur ernster, humorloser, viel politi-
scher. Ich saß in meinem Hongkonger Zimmer
und stellte mir vor, dass die Deutschen so wie
der SPIEGEL sind.
Nach meinem Jura-Studium arbeitete ich
in einer Wirtschaftskanzlei in Hongkong, aber
der Wunsch, Deutschland kennenzulernen,
verließ mich nie. Ich bewarb mich auf ein Sti-
pendium und zog vor zwei Jahren nach Ber-
lin. Und es stimmt schon ein wenig: So wie
der SPIEGEL ist, sind auch die Deutschen.
Oft ernst, kompromisslos seriös, immer
diskussionsfreudig. Gut, manchmal fehlt
ihnen der Blick fürs Kulturelle, genau wie
dem Magazin. Warum gibt es im Kulturteil
so oft Texte über Rapper oder irgendwas
auf Netflix und so wenig über Theater, Lite-
ratur oder Ausstellungen? Das können Sie
mal ändern.
Ich bin keine Abonnentin, ich kaufe mir
das Heft fast jede Woche am Kiosk. Als Co-
rona kam und ich in Berlin kaum noch vor
die Tür ging, schloss ich mich mit dem Maga-
zin ein. Ich erinnere mich an einen großen
Artikel über den Virologen Christian Drosten.
Die ganze Welt war in Panik, aber dieser
Mann schien mir so vernünftig. Ein Akade-
miker. Das Heft hat mir Hoffnung gegeben.
Die Ausgabe habe ich immer noch.
Inzwischen arbeite ich als Juristin in Berlin.
Ich lebe mit meinem Mann und unseren zwei
Katzen in Charlottenburg. Wir haben uns ent-
schieden, in Deutschland zu bleiben, es gefällt
uns hier gut. Wir sind asiatische Immigranten,
eine Minderheit, aber wir fühlen uns als
gleichwertige Bürger. Manchmal, wenn ich in
letzter Zeit an Hongkong denke, werde ich
traurig. Dort wird jetzt nicht mehr diskutiert,
China verbietet es. Was kostet der SPIEGEL
inzwischen in Hongkong? Ich weiß es nicht.
Ich weiß nicht mal, wie lange man ihn dort
noch kaufen kann.«
Leserin Yiu
Uwe Buse, Hauke Goos, Barbara Hardinghaus,
Kristin Haug, Frauke Hunfeld,
Timofey Neshitov, Dialika Neufeld, Max Polonyi,
Alexander Smoltczyk, Barbara Supp (^) n
Maurice Weiss / DER SPIEGEL
58 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022
TITEL 75 JAHRE DER SPIEGEL
2022-02SPAllTitel456452202_ReporterbesuchenLeser-054058 582022-02SPAllTitel456452202_ReporterbesuchenLeser-054058 58 06.01.2022 20:29:5906.01.2022 20:29:59