Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
8 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.

Per Gesetz
wütenden
Thüringern
mit der Spritze
drohen?
Besser nicht.

D


ie Regierung dieses Landes möchte eine Impfpflicht.
So schnell und demokratisch wie möglich, was kei­
ne ideale Kombination ist. Die Bundesrepublik
wäre dann neben Österreich, Tadschikistan, Turkme­
nistan, Mikronesien, Indonesien, Ecuador und dem
Vatikan eines der wenigen Länder dieser Welt mit all­
gemeiner Impfpflicht. Was wiederum keine sonderlich
attraktive Liste ist. Zumal Österreich, wenige Wochen
vor Einführung, inzwischen wieder zweifelt.
Nun gut, Italien plant eine Impfpflicht für Bürger älter
als 50. Viele andere Staaten immunisieren wie Deutsch­
land längst Pflege­ und Gesundheitspersonal. Aber selbst
China, ein Land, in dem die Partei bekanntlich keine
Rücksicht auf Zimperlichkeiten seiner Bevölkerung
nimmt, verzichtet auf eine allgemeine Impfpflicht genau­
so wie Israel, das bislang ein robustes Corona­Regiment
pflegt. Ist es sinnvoll, noch einmal kurz innezuhalten?
Als im vergangenen Frühjahr die Impfkampagne an­
rollte, gab es Mahner, die darauf hinwiesen, dass man
eine Impfquote von mindestens 80 Prozent brauchen
würde. Schon damals debattierte man erstmals über die
Impfpflicht, geprägt von der Empörung über jene, die sich
bockig zeigten bis zum besinnungslosen Starrsinn und
das Ende dieser nervenzehrenden, todbringenden Pan­
demie zu verhindern schienen. Wobei der Begriff Debatte
in die Irre führt. Kanzlerin, Vizekanzler, Minister und
Ministerinnen, Ministerpräsidenten, Generalsekretäre,
Experten, Wissenschaftler, fast alle waren sich einig: Impf­
pflicht? Niemals.
Eigentlich war das eine Selbstverständlichkeit. Un­
versehrtheit des Körpers, Meinungsfreiheit, das Tole­
ranzgebot für die Mehrheit im Umgang mit einer Minder­
heit – diese Prinzipien einer freiheitlichen Demokratie
sind essenziell.

In nur wenigen Monaten aber drehte sich die Stimmung
in Politik und größeren Teilen der Öffentlichkeit. Die­
selben Politiker, die sich dagegen ausgesprochen hatten,
waren nun dafür, egal ob noch im Amt oder nicht. Was
zwischendurch passiert ist? Nicht so viel Unerwartbares.
Es wuchs die Gewissheit, dass Impfen nicht gefährlich
ist, vor Infektion zwar nur bedingt schützt, aber die Wahr­
scheinlichkeit einer schweren Erkrankung deutlich ver­
ringert. Es kam eine vierte, von der Delta­Variante be­
stimmte Welle mit viel höheren Inzidenzen, aber propor­
tional weniger Schwererkrankungen und Toten. Und es
kam zwischenzeitlich zum fast vollständigen Stillstand
der Impfkampagne. Die Versuche, Skeptiker zu ihrem
Glück zu überreden, waren gescheitert. So radikalisierte
sich nicht nur die Minderheit, sondern auch die Mehrheit.
Und während sich wesentliche Teile von Politik und
Medien mit der kommenden Impfpflicht einzurichten
schienen, überfiel uns eine neue Variante.
Fast hat man das Gefühl, Omikron habe uns mit seiner
Wucht zurückgebombt ins Frühjahr 2020, in die Monate
der Unwissenheit, als wir mühsam lernen mussten, welche
Wirkung das Virus hat und wie man ihm begegnet. Zwei
Dinge immerhin sind gewiss: Erstens ist Omikron deutlich
ansteckender als Delta. Allein in London, einer Metropole
von mehr als neun Millionen Menschen, war, so schätzen
es amtliche Statistiker, in der letzten Woche des vergangenen
Jahres jeder zehnte Bürger infiziert – trotz hoher Impfquo­
te. Zahlen, die für unsere fragile Corona­Seelen kaum zu
verarbeiten sind. Andererseits: Omikron ist ein milderes
Virus. Wie milde genau, wie sehr Impfungen noch schützen
vor schwerer Krankheit oder Tod, wie labil die Ungeimpften
sind, darüber gibt es bisher nur Vermutungen, aber keine
Gewissheiten. In Großbritannien jedenfalls steigen die Kran­
kenhauszahlen, während die Kurven der Intensivfälle und
Toten eher flach bleiben. Gesundheitspolitiker dort scheinen
sich mehr Sorgen über das in Quarantäne geschickte Per­
sonal zu machen als über hohe Patientenzahlen.
Wo Ungewissheit herrscht, gibt es auch immer Raum
für Hoffnung. Zumal seriöse Wissenschaftler nicht aus­
schließen, diese Mutation könnte die postpandemische
Phase einleiten. Ausgerechnet jetzt Skeptiker und Ver­
weigerer zur Impfung zu verpflichten wäre schwierig. Es
gibt einen Unterschied zwischen Katastrophenfall und
Vorsichtsmaßnahme. Klar wäre es besser, alle wären ge­
impft, aber es könnte auch sein, dass es schon mal not­
wendiger gewesen ist. Per Gesetz wütenden Thüringern
mit der Spritze zu drohen ist keine gute Idee. Zumal man
ihnen für den vollen Impfschutz eigentlich mit drei bis
vier Spritzen kommen müsste. Kaum vorstellbar, wie
dieses Gesetz dort dann exekutiert werden soll.
Selbst wenn sich in einem Jahr herausstellen sollte,
dass man doch besser die Impfpflicht hätte einführen
sollen, lohnt es sich, noch einmal kurz innezuhalten.
Keine Demokratie, kein Leben ohne Risiko.

Nicht so schnell!


LEITARTIKEL Kanzler, Minister, Wissenschaftler – fast alle wollen sie. Trotzdem ist die Einführung
einer Pflicht, sich impfen lassen zu müssen, keine gute Idee.

Gesundheitsminister
Karl Lauterbach in
einem Impfzentrum
in Hannover

Ines Schiermann / ddp images

Lothar Gorris n

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