Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
92 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

AUSLAND


Diese syrische Mutter aus Aleppo ist in den benachbarten Libanon geflüchtet, seit einem guten Jahr lebt sie mit ihrer Familie in Tripoli südlich von
Beirut. Ihre kleine Tochter ist nun in Sicherheit, aber sie wächst in eine unsichere Zukunft hinein: Im Libanon leben mittlerweile mehr als eine
Million Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, die meisten davon in bitterer Armut. Ein Drittel der unter 17-Jährigen hat noch nie eine Schule besucht,
Kinderarbeit ist verbreitet, die Coronapandemie hat ihre Lebensumstände zusätzlich verschlechtert.

Populist der Mitte


ANALYSE In weniger als 100 Tagen wird
in Frankreich gewählt – und Emmanuel Macron
macht Stimmung gegen Impfgegner.

Die Worte sind grob. Sie gehören sich nicht für einen Präsiden-
ten. Sie sorgen im Wahlkampf für maximale Aufregung. Und ge-
nau das sollen sie. Sie sind kein Ausrutscher, sondern ein ziem-
lich geschickter Angriff Emmanuel Macrons auf seine schärfsten
Gegner bei der Präsidentschaftswahl in drei Monaten.
»Ich habe große Lust, die Ungeimpften anzukacken«, sagt
Frankreichs Staatschef wörtlich. Mehrfach verwendet er in
einem Interview das Verb »emmerder«, damit es ja alle mitbe-
kommen. Die deutsche Entsprechung ist, dass er den Corona-
Impfverweigerern in seinem Land »auf den Sack gehen« will.
Er möchte sie triezen, »bis zuletzt«.
Die Attacke offenbart, wie Macron die Wahl gewinnen will:
als Populist der Mitte, der die Herausforderer zu seiner Rechten
in die Defensive drängt und spaltet. In der Manier eines Populis-

ten drückt er drastisch aus, was eine vermeintliche oder tatsäch-
liche Mehrheit denkt. Und er polarisiert gegen eine radikalisierte
Gruppe, die vermeintlich oder tatsächlich die Rückkehr zur Nor-
malität verhindert. Diese Polarisierung zwingt Macrons Gegner,
sich klar zu positionieren. Doch das scheuen sie.
Während der Präsident sich darauf verlassen kann, dass seine
Kernwählerschaft eine rigorose Impfpolitik unterstützt, liegen die
Dinge für die Konservative Valérie Pécresse und die Rechtsradi-
kalen Marine Le Pen und Éric Zemmour nicht so klar. Ihre ge-
spielte Empörung über die Fäkalvokabel kann ihr Dilemma nicht
kaschieren: Pécresses Partei schwankt zwischen Zustimmung
und Ablehnung von Macrons Coronapolitik. Die Rechtsradikalen
wiederum schwadronieren von Impfdiktatur, aber Umfragen zei-
gen, dass selbst viele ihrer Wähler Macrons Kurs stützen.
Taktisch betrachtet, ist es für ihn ein Glück, dass die Impfpoli-
tik jetzt im Mittelpunkt des Wahlkampfs steht. Rechte Themen
wie Einwanderung und Islam treten dahinter zurück. Allerdings:
Angesichts der Omikron-Variante sollte Frankreichs Gesund-
heitssystem kurz vor der Wahl nun nicht versagen. Und Ma-
crons Bilanz gegen Corona ist trotz hoher Impfquote kein unum-
schränkter Erfolg, vor allem in den Krankenhäusern nicht. Das
werden seine Rivalen zu nutzen wissen. Leo Klimm

Andreea Campeanu / Getty Images

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