Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1
schirr angelegt, ihn vor die Kutsche spannt.
Wie man anfährt, lenkt und bremst. Halser
betreibt den Planwagen- und Kutschen-
verleih Liesje Trecking in Friedenfelde öst-
lich von Templin. Brandenburg ist hier im
Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin
besonders dünn besiedelt, das gibt der
Natur viel Raum, sich zu entfalten.
Und den wollen wir erkunden. Jetzt aber
steht Ernst, und er macht keine Anstalten,
das zu ändern. Umso mehr bin ich als Kut-
scher gefordert. Ratlos schnalze ich mit der
Zunge. Lasse die Zügel auf seinen Rücken
klatschen. Rufe seinen Namen, erst streng,
dann bittend, schließlich verzweifelt. Ich
fühle mich wie ein Hochstapler, der auffühle mich wie ein Hochstapler, der auffühle mich wie ein Hochstapler, der auf--
fliegt, durchschaut von einem Kaltblüter.
Endlich setzt sich Ernst in Bewegung, ver-
mutlich aus Mitleid. Der Planwagen ruckelt,
dann rollt er langsam den Hügel hinauf.
Wir fahren – bis zum nächsten Hügel.
Im Alltag sind wir es gewohnt, dass die
Dinge funktionieren. Apps und elektrische
Geräte machen uns das Leben leicht, auch
das Auto – Tür zu, Schlüssel rein, und los
geht die Fahrt. Doch ein Pferd hat seinen
eigenen Kopf. Auf der Planwagentour sind
wir auf uns allein gestellt. Wir müssen uns
darauf einlassen und lernen, indem wir
ausprobieren, was funktioniert. Keine App
kann uns dabei helfen. Dafür haben wir
viel Zeit, keine Termine, keine Ablenkung.

E


rnst will nicht weitergehen. Eigent-
lich soll er den Planwagen ziehen,
hier auf dem Feldweg mitten im
Nirgendwo, und bis eben hat er das
auch brav getan. Doch dann kommt
ein Hügel, ein kleiner Anstieg, und
Ernst bleibt stehen. Entschleunigt. Ver-
harrt in vollem Geschirr vor dem Plan-
wagen, um am Wegesrand zu grasen. Man
kann es ihm nicht verübeln, aus seiner
Sicht ist die Uckermark ein Schlaraffen-
land. Überall Gräser, Sträucher, Büsche.
Ernst senkt den Kopf und beißt ins saftige
Grün. Muss der Kutscher eben warten.
Ernst ist ein 17-jähriger Kaltblüter. Und
der Kutscher, der bin ich. Zwei Tage wollen
der Fotograf Christian Irrgang und ich mit
dem Planwagen durch die Uckermark fah-
ren. Schon nach wenigen Minuten stoßen
wir an unsere Grenzen. Ich sitze auf dem
Kutschbock und habe die Zügel in der Hand.
Aber Ernst gehorcht mir nicht. Warum
sollte er auch? Mit seinen 890 Kilo ist er
zehnmal so schwer wie ich. Bestimmt hat
er gemerkt, dass ich Pferde nicht verstehe,
ja dass sie mir suspekt sind. So stark und
doch so nervös. Selbst als Christian ihn mit
einer Möhre lockt, rührt sich Ernst nicht
vom Fleck. Die Möhre frisst er trotzdem.
Heute Vormittag hat uns Nadin Halser,
37, auf ihrem Pferdehof eingewiesen. Hat
uns gezeigt, wie man Ernst putzt, das Ge-

Familie Matuszewski aus Erfurt (o.) fährt
vier Tage lang durch die Uckermark, den Plan-
wagen hat sie bei Nadin Halser (M.) gemietet.
Unten: Pferdegeschirre auf Halsers Hof


102 24.2.2022


REISE

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