Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1

B


evor Sie fragen: Nein, ich habe den tragischen
Auftritt der russischen Eiskunstläuferin Kamila
Walijewa nicht gesehen. Nicht live. Nachdem ich
in meiner vorigen Kolumne geschrieben habe, man
könne das zynische Geschäft des IOC nur mit Nichtbe-
achtung strafen, bin ich konsequent geblieben. Diese
Winterspiele haben ohne mich stattgefunden. Und
nach allem, was ich höre, habe ich nicht viel verpasst.
Es bringt eben niemandem Spaß, die Abfahrt auf
künstlich weißen Pisten zu sehen, die inmitten brau-
ner Hügel einsam vor sich hin matschen. Das macht
schon im Weltcup schlechte Laune, weil man nir-
gendwo so deutlich dem Klima beim Wandeln zuse-
hen kann. Während der Spiele in China, mit all den
menschenverachtenden Rahmenbedingungen, hat es
überhaupt keine Freude mehr gemacht, da sind sich
viele Kommentatoren einig.
Und dann der Fall, der Sturz, die Stürze der Kamila
Walijewa. Es gibt Sportarten bei den Olympischen
Spielen, die eine Altersgrenze haben. In der Leicht-
athletik zum Beispiel darf man nicht unter 18 starten.
Turner und Turnerinnen müssen mindestens 16 Jah-
re alt sein. Diese Regeln haben eine weitere Disziplin
hervorgebracht: Age Cheating, den Altersbetrug. So
wurde zum Beispiel die chinesische Turnerin He Ke-
xin bei den Olympischen Spielen 2008 mit Papieren
ausgestattet, die sie über Nacht zwei Jahre älter mach-
ten: 16 statt 14. Die Wettbewerbe fanden übrigens in
Peking statt. Kexin gewann Gold am Stufenbarren.
Olympisches Gold ist der Nobelpreis des Sports. Es
gibt nichts Ehrwürdigeres, Wertvolleres. Wer einmal
gewonnen hat, ist sein Leben lang Goldmedaillen-

Gewinner. Das kann wertvolle Werbeverträge einbrin-
gen, was die jahrelange Plackerei gerecht belohnt. Der
Ruhm des Athleten strahlt aber auch auf seine Hei-
mat ab, und so kann Spitzensport zur politischen
Botschaft verkommen. Die funktioniert so: Welche
Nation die meisten Goldmedaillen erringt, hat mehr
richtig gemacht als die anderen. Hat die stärkeren
und schnelleren Sportler, und, so das darwinistische
Kalkül, die gesünderen, fitteren, besseren Menschen.
Nur so ist zu erklären, mit welcher Brutalität immer
wieder die nüchternen Gesetze der Biologie und Phy-
sik auf junge Menschen angewandt werden. Es geht
nicht nur um Training, um Kraft und Leistung. Es wird
nachgeholfen mit Herzmitteln wie zum Beispiel Tri-
metazidin, das dafür sorgt, dass die Zellen die Energie
effizienter verbrennen können. Spuren davon wurden
bei der 15-jährigen Russin Walijewa gefunden, sodass
ihre Teilnahme am olympischen Eiskunstlauf kurz
auf der Kippe stand. Sie galt als absolute Favoritin, und
mit ihrer kinderleichten Statur als prädestiniert, um
einen Vierfachsprung nach dem nächsten zu voll-
führen, für die es sehr viel Kraft oder eben geringes
Gewicht braucht. Ihre Trainerin Eteri Tutberidse steht
seit Jahren im Ruf, eine „Kinderfabrik“ zu führen:
ausgerichtet auf die Produktion zierlicher Rekord-
springerinnen, alles zum Wohle des Vaterlands.
Kindeswohl? Menschenwürde? Die Antwort würde
lauten: Aber es macht den Mädchen doch Spaß!
Der Wettbewerb in Peking offenbarte das böse
Treiben hinter der Bande der Eisarena: Spätestens
als Tutberidse die völlig aufgelöste – weil geschei-
terte – Walijewa anschnauzte, „Warum hast du aufterte – Walijewa anschnauzte, „Warum hast du aufterte – Walijewa anschnauzte, „Warum hast du auf--
gehört zu kämpfen? Erklär mir das!“, anstatt das Kind
einfach in den Arm zu nehmen, zeigte dieser verroh-
te Ehrgeiz seine Fratze. Ein junges Mädchen wurde
körperlich malträtiert und seelisch gequält, um ein
Milliardenpublikum zu erfreuen und ein autokra-
tisches System zu stützen.
Die nächsten Olympischen Spiele finden im Som-
mer 2024 in Paris statt. Es müssen die Spiele des Neu-
anfangs werden, sonst tötet Olympia den Sport. 2

„Kindeswohl?


Menschenwürde? Die


Antwort würde lauten:


Aber es macht den


Mädchen doch Spaß!“


DIE STÜRZE UND DER FALL DER KAMILA W.DIE STÜRZE UND DER FALL DER KAMILA W.


Das Drama der russischen Eiskunstläuferin Kamila Walijewa hat die


Menschenverachtung eines politisch missbrauchten Spitzensports offenbart


18 24.2.


FOTO: CAROLIN WINDEL/STERN

ACH, MENSCH
DIE GESELLSCHAFTSKOLUMNE.

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stern-Chefredakteur Florian Gless
schreibt hier jede zweite Woche über die
Herausforderung, einfach Mensch zu sein
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