Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1
FOTO: PETER KLAUNZER/AFP

N


ur ein paar Tage bevor Wladimir
Putin weiter eskalierte, trat in
Washington sein Gegenspieler
vor die Presse: Joe Biden. Und
der US-Präsident tat, was er
öfter tut: Er sagte die Wahrheit.
Der Präsident ist, auch nach
einem halben Jahrhundert in der Politik,
ein offener Mensch. Einer, der antwortet,
wenn man ihn fragt. Er sei der Ansicht,
sagte Biden, im Weißen Haus vor der
Presse stehend, dass Wladimir Putin eine
Entscheidung getroffen habe. Eine Jour-
nalistin fragte nach: Das heißt, der russi-
sche Präsident hat sich für eine Invasion
der Ukraine entschieden?
„So ist es“, sagte Biden.
Eine weitere Nachfrage: Auf welcher
Grundlage wissen Sie das?
„Wir haben“, sagte der Präsident, wobei
er kurz ein Lächeln andeutete, „erhebliche
nachrichtendienstliche Fähigkeiten.“
Dann verließ Biden den Raum. Er hatte
der Welt gerade mitgeteilt, was er dieser
Tage in den Dossiers seiner Geheimdienste
liest. Und er hatte das nicht aus Versehen
getan, natürlich nicht. In dieser Krise, in
der so vieles unklar ist, in der alle in Putins
Kopf schauen wollen, alle sich fragen, was
als Nächstes passiert, hat Joe Biden eine
Strategie gefunden: die der maximalen
Offenheit, eine Art Vorneverteidigung
an der Informationsfront. Denn natürlich
sind Informationen in diesem Konflikt
Waffen – auf allen Seiten.
Biden will Putin den Raum nehmen,
in dem der sich wohlfühlt: den Raum des
Ungefähren, des Taktierens, der Desinfor-
mation. Der Propaganda. So lässt sich ge-
rade live erleben, wie zwei Ideen aufeinan-
derprallen: Bidens Demokratie, in der ein
Präsident sein Geheimdienstwissen mit der
Öffentlichkeit teilt, um einen Krieg zu ver-
hindern. Er ringt mit dem Autokraten und
früheren Agenten Putin. Dem Meister da-
rin, die Öffentlichkeit zu täuschen.
Mag sein, dass Putin gerade das Spiel sei-
nes Lebens spielt. Joe Biden aber merkt
man die Entschlossenheit an, ihn nicht
gewinnen zu lassen.
Womit es ihm ähnlich geht wie den
Menschen in der Ukraine, die ihre Freiheit
schätzen, die nach Europa wollen und
Putins Spiel durchschauen. Einige von
ihnen werden gleich zu Wort kommen. Sie
sind ja diejenigen, um die es eigentlich geht
in dem großen geopolitischen Showdown.
Es ist eine der erstaunlichen EntwickEs ist eine der erstaunlichen EntwickEs ist eine der erstaunlichen Entwick--
lungen derzeit, eine von mehreren: Die
Ukraine lag gefühlt noch nie so nah an
Berlin, an Paris, an Brüssel. Gleichzeitig
kann Europa froh sein, dass es Amerika

gibt, weil es trotz aller Versuche nicht
allein imstande ist zu handeln. Es darf sich
glücklich schätzen, dass Joe Biden die
letzte Präsidentschaftswahl gewonnen
hat. Ein Mann, der an die Nato glaubt, sie
wiederbeleben wollte und dem genau
das aktuell auch gelingt. In dieser Krise.
Nicht zuletzt durch die unfreiwillige
Hilfe Putins, der mit seiner Aggression die
Einigkeit auf der anderen Seite befördert.
Vor ein paar Wochen wäre es noch absurd
gewesen: ein neuer Krieg in Europa? Heute
ist es das wahrscheinliche Szenario. Viel-
leicht hat die russische Invasion begonnen,
wenn dieser Artikel erscheint. Bei Redakwenn dieser Artikel erscheint. Bei Redakwenn dieser Artikel erscheint. Bei Redak--
tionsschluss hatte sie es noch nicht – aber
Wladimir Putin zeigte schon, wie er weiter
vorgehen will: Der Kreml erkannte die
Separatistengebiete in der Ostukraine als
unabhängige Staaten an.

In Moskau sagte der Chef des russischen
Auslandsgeheimdienstes vor laufenden
Kameras, er unterstütze die Annektierung
der Gebiete. Da musste Putin, der daneben-
saß, lachen: „Darüber sprechen wir nicht.“
Abends am Montag dann sprach er zum
russischen Volk, der Mann, der diese Krise
schuf. Wladimir Putin beschrieb die
Ukraine als ein Land, das es historisch gar
nicht gegeben habe. Ihre Unabhängigkeit?
„Wahnsinn“. Die Ukrainer gehörten zu den
Russen. „Sie sind Kameraden“, sagte Putin.
„Sie sind Familie.“
Putin hält die Ukraine für russischen Be-
sitz. Die Separatistengebiete, in die er jetzt
russisches Militär schicken kann, könnten
der Anfang sein. Dann wäre es so, wie Joe
Biden es vorausgesagt hatte.
Schon mit dem Verlegen seiner mindes-
tens 150000 Soldaten hatte Putin eine

„WIR HABEN ERHEBLICHE


NACHRICHTENDIENSTLICHE FÄHIGKEITEN“


„WIR HABEN ERHEBLICHE


NACHRICHTENDIENSTLICHE FÄHIGKEITEN“


„WIR HABEN ERHEBLICHE


Joe Biden am 18. Februar


Beschnuppern, beäugen, belauern – die Präsidenten
Joe Biden (r.) und Wladimir Putin
beim Genfer Gipfeltreffen im vergangenen Juni

26 24.2.2022

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