Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1
Warum? „Ich sehe es als meine Pflicht“,
sagt Tymoschenko. Auch er spricht von der
Zukunft, von einer freien Ukraine für
seine Kinder, von Europa. Und er, der His-
toriker, erzählt, dass ihn Deutschland ent-
täusche. In einer Pause auf dem Übungs-
platz ist es an ihm, einen dieser Sätze zu
sagen, die nachklingen werden: „Vor allem
Deutschland“, sagt Jurij Tymoschenko,
„hält immer noch zu Putin.“ Er verstehe ja,
dass sich viele Deutsche wegen des Zwei-
ten Weltkriegs gegenüber Russland schul-
dig fühlten. „Was ist aber mit der Ukraine?“,
fragt er. „Hitler hat zuerst die Ukraine
überfallen, bevor er überhaupt das russi-
sche Territorium erreicht hat. Er hat einen
Krieg gegen 15 Sowjetrepubliken geführt,
nicht gegen Russland allein.“
Eine kleine Lektion in Richtung Berlin.
Ein kleiner Weckruf auch: So leicht lassen
wir euch Deutsche nicht davonkommen.
Die Ukrainer wollen Hilfe. Sie interes-
sieren sich nicht für die Grundsatzent-
scheidung der deutschen Politik, keine
Waffen in Spannungsgebiete zu liefern. Im
Bayerischen Hof, bei der Münchner Sicher-
heitskonferenz, traf Annalena Baerbock
am Wochenende auf Vitali Klitschko,
der seit 2014 Bürgermeister von Kiew ist.
Plötzlich klingt der alte Boxer wie früher:
„We are ready to fight“ – aber wir brauchen
Unterstützung. „Danke für 5000 Helme“,
sagt Klitschko und lächelt, „aber das ist
nicht genug. Nur damit können wir unser
Land nicht verteidigen.“
Dann ist Baerbock dran. „Für uns ist es
keine einfache Entscheidung“, beginnt sie
und verweist darauf, dass Waffenlieferun-
gen diplomatische Bemühungen gefährden
könnten, „dann wäre das eine große 4

Grenze verschoben: die unserer Vorstel-


lungskraft. „Wir glauben“, so sagte es Joe


Biden vergangene Woche, „dass sie Kiew


angreifen werden. Eine Stadt von 2,8 Mil-


lionen unschuldigen Menschen.“


Kiew, am vergangenen Sonntag, einen Tag


vor Putins Ansprache. Die Sonne scheint, als


würde bald der Frühling beginnen. Da zieht,


als eine von Tausenden, eine Mutter die


Allee der Helden entlang, die sich vom Maj-


dan, dem Unabhängigkeitsplatz, den Hügel


hinaufschlängelt. Sie will der Opfer von vor


genau acht Jahren gedenken, der Revolution


von 2014, als das damalige Regime hier 100


Demonstranten erschießen ließ. In der


Ukraine begehen sie am 20. Februar des-


wegen einen „Tag der Würde“.


Die Mutter heißt Ljudmila Hetman-


tschuk, eine Buchhalterin, 55 Jahre alt.


„Dank ihrer Opfer“, sagt sie, sie meint die


toten Demonstranten, „können wir heute


Ukrainer sein.“ Und, sagt sie, „ein norma-


les europäisches Land aufbauen“. Neben


Hetmantschuk geht ihr Sohn Nasari, 25,


der angibt, er sei zum Kampf bereit. „Es


geht hier doch nicht um die Ukraine allein“,


sagt Nasari. „Wir verteidigen Europa.“


Der Abend zuvor, eine Musikhalle im


Zentrum. Drinnen spielt gleich eine


Gothic-Rock-Band. In der Schlange vor dem


Eingang findet sich kaum Angst. Eher Trotz.


Da steht Ihor, ein Bauingenieur, er sagt:


„Putin hat uns geeint.“ Er fragt: „Sollen wir


alle in Schutzkellern sitzen und vor Angst


zittern?“ Neben Ihor prophezeit einer


Putin „Tausende Särge“ voller russischer


Soldaten, und als er das laut ausruft, fangen


sie in der Schlange an zu klatschen.


Vielleicht ist es gegenseitiges Mutma-


chen. Vielleicht ist es aber auch jene ukrai-


nische Tapferkeit, ungebrochen nach acht
Jahren Krieg im Donbas, nach 14000 Toten,
die Tapferkeit, von der im Westen gerade
viel die Rede ist. Und die etwa Joe Biden
ehrlich bewundert. Live zu erleben vor
einer Kiewer Konzerthalle.
Ein Volk, das irgendwann in die EU will.
Das sich, und nichts fürchtet Putin mehr,
langsam an Freiheit und Demokratie ge-
wöhnt. Vielleicht bald in Kombination mit
Wohlstand. Ein nicht zuletzt in Deutschland
bewährtes Konzept. Die Ukraine will nicht
mehr nur geografisch in Europa liegen. Da
spielt die Zeit gegen Putin, er weiß das.

A


nderntags in der Nähe von Kiew, eine
alte sowjetische Asphaltfabrik mitten
im Wald. Ein Ort, an dem man Kriegs-
filme drehen könnte. Jetzt trainiert hier der
ukrainische Heimatschutz für den Fall
des realen Krieges. Der zuständige Oberst
vor Ort berichtet, er bekomme im Moment
200 Anrufe am Tag. Von Zivilisten, die bei
der Verteidigung helfen wollen. Zwischen
Betongerippen und zerstörten Hallen üben
sie: um die 150 künftige Verteidiger von
Kiew. Jurij Tymoschenko ist darunter, Pro-
fessor für Geschichte, er hat über 3000 Euro
für seine Ausrüstung ausgegeben. Ein au-
tomatisches Gewehr mit Fernrohr und
Schalldämpfer hat er gekauft, eine Uniform
mit Helm, ein Funkgerät. Tymoschenkos
Gehalt beträgt 500 Euro im Monat, für sei-
ne Bewaffnung nahm er einen Kredit auf.
Damals, 2014, sagt er, wäre er dazu nicht
bereit gewesen. „Ich sagte mir, dass ich
zuerst an meine Familie denken muss. Heu-
te schäme ich mich dafür.“ Mit dem nächs-
ten Gehalt will er sich noch Keramikplat-
ten für die schusssichere Weste besorgen.
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