Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1
FOTOS: CHRIS MCGRATH/GETTY IMAGES; HANNIBAL HANSCHKE/DDP

Sicherheitsgefahr für alle Bewohner der
Ukraine“. Sie versichert Klitschko, dass jede
Anfrage genau geprüft werde. „Sie haben
nach Helmen gefragt, wir haben geschaut,
wie viele wir liefern können. Es tut mir leid,
dass es nur 5000 waren“, so Baerbock.
Aber das ist ein kleines Problem: Die
Bundesrepublik hat kaum Kriegsgerät, das
sie auf die Schnelle liefern könnte. Das gilt
selbst für die von der Ukraine angefor­
derten Nachtsichtgeräte – die, da nicht
tödlich, eigentlich verschickt werden
könnten. Es bleibt das Gefühl, dass der
praktische Teil des deutschen Beistands
kein Herzensanliegen der Regierung ist.
Für Joe Biden dagegen ist die Ukraine
ein besonderes Land. Er war Vizepräsident
unter Barack Obama, als die Ukrainer 2014
für die Freiheit auf die Straße gingen,
als Putin die Krim besetzte und den Krieg
im Donbas lostrat. Damals sagte Biden,
Putin müsse dafür bezahlen. Er sagte, „mit
Geld und Blut“.

B


iden empfand gleich Sympathie für die
Menschen auf dem Majdan, immer
wieder reiste er als Obamas Stellver­
treter nach Kiew. Man spürt die Sympathie
auch, wenn man seine Memoiren liest.
Die erschienen drei Jahre später. Darin
erzählt Biden von seinen wöchentlichen
Mittagessen mit Obama. Biden sagt, er
habe Obama überzeugen wollen: Die USA
sollten der Ukraine Panzerabwehrraketen
liefern. Das tun, worum es auch heute
wieder geht: Putins Russland mit mili­
tärischer Stärke gegenübertreten.
Dem Land, das mit militärischer Stärke
von seiner wirtschaftlichen Schwäche ab­
lenkt. Aber Obama wollte damals nichts
davon wissen. Bloß die Russen nicht zu
sehr provozieren. Die Ukraine, schreibt
Biden in seinem Buch, habe ihn an den
Grund erinnert, warum er einmal in die
Politik gegangen war. Es war sein Kind­
heitsversprechen: in der Welt einen Unter­
schied machen. Das mag amerikanisch pa­
thetisch klingen, aber manches deutet
darauf hin, dass Biden so ist: ein Idealist.
Er will, dass das Gute gewinnt. Die Demo­
kratie, nicht die Autokratie. Die Menschen
in Kiew, die Mutter beim Gedenktag, der
Konzertbesucher Ihor, sie alle, die zum Wes­
ten gehören wollen. Nicht Wladimir Putin.
Biden hat undiplomatische Dinge über
Putin gesagt. Dass er im russischen Präsi­
denten einen Menschen „ohne Seele“ sehe,
zum Beispiel. So ist es jedenfalls über­
liefert. Auf die Frage eines Interviewers,
ob er denke, dass Putin ein „Killer“ sei,
ein Mörder, antwortete Biden: „Ja, tue ich.“
Dieser Präsident kann etwas Altmodisches

an sich haben. Wie eben, dass er auf Fragen
eingeht und dass er vor laufenden Kame­
ras laut überlegt. Er ist anders als der pro­
fessionell coole Obama, der sich immer im
Griff hatte. Und ganz anders ist Biden, klar,
als sein unmittelbarer Vorgänger.
Altmodisch an ihm ist aber auch, dass er
ans transatlantische Bündnis glaubt. An den
Westen. Obama schaute eher nach Asien, die
Nato war für ihn ein Relikt aus dem Kalten
Krieg. Biden dagegen interessiert sich für
Europa, leitet, wie es heißt, die wichtigsten
Meetings zur aktuellen Krise persönlich. Er
kenne die Details, sei involviert in die täg­
liche diplomatische Arbeit für den Frieden.
Es wirkt, als spiele nicht nur Putin gera­
de das Spiel seines Lebens. Sondern auch
Biden, dieser Veteran der amerikanischen
Politik, dieser Kompromisskandidat der
US­Demokraten, dieser älteste Präsident
der Geschichte, der Mann, der zu Hause
gegen schlechte Umfragewerte kämpft und
dessen Reden kaum noch jemanden begeis­
tern. Für ihn ist die Krise auch eine Chance,
von den Niederungen der Innenpolitik ab­
zulenken und sich auf ganz großer Bühne
zu beweisen. Natürlich ist das so. Und
einem Mann mit der Erfahrung des bald
80 ­Jährigen muss das niemand erklären.
Aber wenn man ihm zuhört, drängt sich
ein Eindruck auf: Er nimmt diese Krise

persönlich. Er findet nicht nur klare Ant­
worten. Sein Team hat ihm Sätze in seine
Reden geschrieben, die hängen bleiben
werden. Vielleicht historische Sätze. Wenn
Putin angreife, sagte Biden, sei es „a war of
choice“, ein Krieg aus freien Stücken. Ein
Krieg ohne Grund.
Biden ist es, der Putin entlarvt. Und der
zu dem Zweck vergangene Woche auch
seinen Außenminister Blinken nach New
York schickte, in den UN­Sicherheitsrat.
Blinken, der Chefdiplomat, legte dort noch
detaillierter dar, was die Russen tun könn­
ten. Ein Moment der Geschichte. Ein gro­
tesker. Blinken führte aus, über welche
fingierten Kriegsauslöser die Russen offen­
bar zuletzt nachdachten: einen angebli­
chen Terroranschlag von Ukrainern in
Russland zum Beispiel, in Wahrheit von Pu­
tin befohlen. Alternativ einen Angriff mit
Chemiewaffen oder den Fund eines Mas­
sengrabs. Anschließend, so Blinken, wür­
den die Moskauer Eliten in „theatralisch
inszenierten Sitzungen“ zusammenkom­
men. Die russische Propaganda spräche
dann von Genozid oder ethnischen Säube­
rungen an der russischen Minderheit in der
Ukraine. Darauf, hieße es dann in Russland,
müsse man antworten. All das erzählte er
im Sicherheitsrat, vor der ganzen Welt. „Wir
hoffen“, sagte Blinken, „wir irren uns.“

„WIR VERTEIDIGEN EUROPA“


Nasari Hetmantschuk, 25,
Ukrainer

Ukrainische Frauen erinnern in Kiew mit der Nationalhymne
an die Toten des Aufstands vor acht Jahren

28 24.2.2022

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