Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1
Raphael Geiger (r.)
verfolgt in den USA,
wie sich die Amerikaner
über die zögerlichen
Deutschen wundern. Bettina Sengling
reist seit Jahren regelmäßig in die Ostukraine,
Andrzej Rybak recherchierte in Kiew.
Mitarbeit: Anuschka Tomat

Demütigungen aus der Zeit nach dem Zu­
sammenbruch der Sowjetunion. Befeuert
vom Groll darüber, dass die Nato Russland
näher gerückt ist als einst erwartet. Wo­
rum es ihm geht? Vielleicht nur noch um
seinen Platz in der Geschichte. Um die
Einheit der slawischen Völker. Auch gegen
den Willen dieser Völker. Putin, heißt es,
habe sich in der Pandemie ganz abge­
schottet. Er sei im Grunde allein. Gleich­
zeitig sei er viel religiöser geworden. Ein
einsamer Staatschef, der sich in einer
Linie zu den großen Zaren sieht. Und im
Gespräch mit Gott.
Dagegen steht Joe Biden. Ein Präsident,
der Fehler gemacht hat, der oft Schwächen
zeigt und sich später dafür entschuldigt.
Kein Zyniker. Einer, dem man glaubt, dass
er den Krieg verhindern will. Putin nicht
gewinnen lassen. Und dessen Angriff auf
die Ukraine, den Westen, die Freiheit.
Und dazwischen: die Europäer. Glück­
lich, dass das transatlantische Bünd­
nis unter Biden wieder lebt. Und dabei
alarmiert. Denn Putin will die alte Welt­
ordnung so weit wie möglich wieder her­
stellen – mit Russland, den USA und nun
auch China als globalen Akteuren, die den
Rest der Welt in Einflusszonen aufteilen.
Der EU und damit Deutschland bliebe
dann nur das Schicksal als Einflusszone
der Supermächte. Als klar wurde, dass sich
Antony Blinken diese Woche mit Sergej
Lawrow treffen will, seinem russischen
Amtskollegen, vorausgesetzt, die Russen
greifen vorher nicht an, da war die Frage
von Krieg und Frieden eben wieder genau
das: eine Sache zwischen Washington und
Moskau.
Unter den Zivilisten, die im Wald bei
Kiew für den Krieg trainieren, sind in­
zwischen auch junge Frauen. Alyssa zum
Beispiel, 29 Jahre alt. Sie sagt, ja, die Ukrai­
ne habe Probleme mit der Korruption.
„Und die Straßen sind voller Schlaglöcher.
Aber hier landet niemand im Gefäng­
nis, weil er den Präsidenten kritisiert.“
Die Russen dagegen hätten, meint Alys­
sa, modernste Waffen und jede Menge
Raketen. „Aber sie wissen nicht, wofür
sie kämpfen.“
Besser hätte es Joe Biden auch nicht
sagen können. 2

Putin hatte tatsächlich schon vom „Ge­


nozid“ im Donbas gesprochen, auch beim


Besuch von Kanzler Olaf Scholz. Und als am


Montag in Moskau der nationale Sicher­


heitsrat tagte, war es, als hätte Antony Blin­


ken mit seinem Satz von den theatralischen


Sitzungen schon jetzt recht behalten.


Gerade im Donbas, in der Ostukraine,


wo der Krieg seit 2014 nie zu Ende ging,


eskalierte am Wochenende die Lage: Die


Separatisten, vom Kreml unterstützt und


finanziert, starteten einen Großangriff.


Gerade als sie in Kiew noch der Toten


von damals gedachten und der Geschichts­


professor Jurij Tymoschenko sich im


Kampf übte.


Im Osten des Landes war es schon ernst.


Dort war und ist es real.


A


nruf bei Anja Adonjewa, 42, aus dem
Dorf Solote bei Luhansk: „Hier wird
seit drei Tagen geschossen“, erzählt sie.

„Tag und Nacht.“ Ein Geschoss traf das Um­


spannwerk, der Strom fiel aus, Bergleute


blieben für Stunden unter Tage stecken.


Mehr als 500 Explosionen allein im Gebiet


um die Stadt Donezk, täglich. Im Gebiet


von Luhansk sogar mehr als 950.


Nachrichten aus der Kriegszone: In Wru­


biwka Artilleriebeschuss, zwölf zerstörte


Wohnhäuser. In Stanizja Luhanska zer­


schlug morgens ein Geschoss die Turnhal­
le eines Kindergartens, die Kinder hatten
sich gerade für einen Spaziergang fertig ge­
macht. Tagsüber traue sich kaum jemand
aus dem Haus, erzählt Katja Laschkowa
von der Hilfsorganisation Proliska. Die
Schulen bleiben geschlossen, der Unter­
richt findet digital statt – nicht wegen der
Pandemie, sondern wegen der Schuss­
wechsel. Panik und Depression herrsche,
sagt Laschkowa: „Viele fürchten sich vor
einem Einmarsch der Russen.“
Es wirkt wie ein Fenster in die Zukunft.
Im Donbas geschieht es heute, im Rest der
Ukraine vielleicht schon in wenigen Tagen.
Die russische Propaganda tut, was Blinken
prophezeite: Sie sucht einen Kriegsgrund.
Mal werden Raketeneinschläge des ukrai­
nischen Militärs gemeldet, mal griffen
Ukrainer angeblich russische Gebiete an.
Die Separatistenführer ließen deswegen
Zehntausende Frauen und Kinder aus
ihren Gebieten nach Russland evakuieren.
Wobei eine davon der Putin­kritischen Zei­
tung „Nowaja Gaseta“ erzählte, wie sehr
sie sich darüber wunderte: Es sei doch
alles ruhig gewesen. Kein ukrainischer
Angriff, nirgends. Sie wisse gar nicht, sag­
te die Frau, wovor sie fliehen solle.
Es ist Putins Krieg, so er beginnt. Seine
historische Mission, getrieben von alten

„DAS RISIKO IST ALLES ANDERE


ALS GEBANNT“


„DAS RISIKO IST ALLES ANDERE


ALS GEBANNT“


„DAS RISIKO IST ALLES ANDERE


Bundeskanzler Olaf Scholz


Kanzler Olaf Scholz (l.) und der französische Präsident
Emmanuel Macron werben im Namen Europas für den Frieden

24.2.2022 29

Free download pdf