Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1
FOTO: ALEXANDRA BEIER/GETTY IMAGES; UNI D. BUNDESWEHR

E


uropa steht am Rande eines Krie­
ges. Haben Sie den Eindruck, dass
die Ampelregierung darauf bisher
angemessen reagiert hat?
Es gab eine ruckelige Anfangsphase:
Da stänkerte die SPD gegen die
Grünen, Außenpolitik werde ohnehin im
Kanzleramt gemacht. Es gab eine unnötige
Kakofonie in der Frage, wie umgehen mit
Nord Stream 2. Und die Kommunikation
war grottenschlecht. Andere Länder liefern
panzerbrechende Waffen, wir schicken
Helme – das sollte man besser erklären.
Zumal die Ukraine sich diese Helme
gewünscht hat. Aber seit zwei, drei Wochen
läuft’s.
Zumindest in Sachen PR wurde aufge­
rüstet. Als der Kanzler nach Moskau flog
und die Russen einen Truppenabzug
ankündigten, jubelte SPD­Chefin Saskia
Esken auf Twitter: „Das ist das erste Er­
gebnis einer beeindruckenden Krisen­
diplomatie der Ampelregierung und des
Bundeskanzlers. Well done, Olaf Scholz“.

Das war Quatsch, und spätestens seit
Putins Rede ist es offensichtlich: 16 Jahre
deutsche Ostpolitik unter Merkel sind
gescheitert. Doch in Deutschland haben
viele nicht verstanden: Wir sind kein
zentraler Player in dieser Krise. Wir sind
allenfalls ein Flügelspieler der USA.
Unterliegt auch Scholz diesem Irrtum?
Der Kanzler selbst weiß das, aber große Tei-
le der deutschen Politik haben es noch nicht
begriffen: Eigene Spielräume haben wir nur
im Normandie-Format – also der Vierer-
Gesprächsrunde Frankreich, Deutschland,
Russland, Ukraine. Ansonsten gilt in der
Krise: Klappe halten, unterstützen oder
zur Seite treten und nicht stören.
Inzwischen lobt sogar der US­Präsident
die deutsche Verlässlichkeit. Sind alle
Zweifel ausgeräumt?
Im Prinzip ja. Aber es bleibt auch bei vie-
len Partnern unverständlich, warum wir
keine Waffen in die Ukraine liefern – die
historische Verantwortung, die als Grund
genannt wird, haben wir ja nicht nur

gegenüber Russland, sondern gerade auch
gegenüber der Ukraine.
Kann sich Deutschland auf Dauer die
Sonderrolle leisten, aus moralischen
Gründen keine Waffen zu liefern?
Nein, das ist in hohem Maße lächerlich.
Deutschland darf sich nicht länger hinter
seiner Geschichte verstecken. Wir müssen
Verantwortung übernehmen. Ja, wir liefern
keine Waffen in Krisengebiete. Aber hier
verweigern wir einem Staat, der sich einer
unmittelbaren Aggression ausgesetzt
sieht, das Recht auf Selbstverteidigung.
Estland würde gern NVA­Haubitzen aus
alten DDR­Beständen an die Ukraine
liefern. Aber können die wirklich Putins
Truppen stoppen?
Ich höre die Ironie. Die Haubitzen sind
natürlich egal, aber nehmen Sie die türki-
schen Drohnen. Für die russischen Panzer-
verbände sind die ein ernsthaftes Problem.
Sie verändern die Kosten-Nutzen-Relation
einer russischen Invasion: Russland müss-
te einen höheren Blutzoll entrichten.
Putin geht es um mehr als die Ukraine.
Er will Einflusszonen in der Größe der
alten Sowjetunion schaffen.
Ich würde es noch weiter fassen: Es geht
um die zentralen Spielregeln internatio-
naler Politik im 21. Jahrhundert. De fac-
to läuft es auf eine Neutralisierung der
Ukraine hinaus. Am Ende steht die fatale
Botschaft: Wenn du möglichst ruchlos dei-
ne Interessen verfolgst, kommst du durch.
Warum handelt Berlin so zögerlich?
Wir übersehen, dass die großen Player –
China, Russland, die USA – an einer über-
mäßig verrechtlichten Welt kein Interesse
mehr haben. Multinationale Institutio-
nen, auf die wir immer setzen, empfinden
sie als hinderlich. Wir erleben die Rück-
kehr der klassischen Großmachtpolitik.
Und darauf finden wir keine Antwort?
Das ist die Kontinuität deutscher Außen-
politik: internationale Kooperation first.
Da sitzen dann alle mittleren Mächte, die
ohnehin nicht viel zu sagen haben, am Kat-
zentisch und jammern, dass die Großen
den unilateralen Weg gehen. Wenn wir
Weltpolitik mitprägen wollen, müssen wir
uns aus dieser mentalen Falle befreien.
Das klingt nach Machtpolitik. Annalena
Baerbock hat sich aber einer werteorien­
tierten Außenpolitik verschrieben.
Im Grunde ist das gut so. Das AA braucht
eigene Spielwiesen. Klimaaußenpolitik ist
richtig und wichtig. Ich habe auch nichts
gegen eine feministische Außenpolitik,
wenn man darunter etwa den stärkeren
Schutz von Frauen in Krisengebieten ver-
steht. Ich warne aber vor der Illusion, fe-
ministische Außenpolitik sei friedlicher,

Der Münchner Politikprofessor Carlo Masala


analysiert die Russland-Krise und warum Deutsch-


land nicht an seiner Sonderrolle festhalten sollte


„WIR DEUTSCHEN SIND


KEIN ZENTRALER PLAYER“


„WIR DEUTSCHEN SIND


KEIN ZENTRALER PLAYER“


„WIR DEUTSCHEN SIND


POLITIK


Am Tisch der Großen? Außenministerin Annalena Baerbock und ihr US-Kollege
Antony Blinken auf der Münchner Sicherheitskonferenz

30 24.2.2022

Free download pdf