Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1
FOTO: MAX ZERRAHN/STERN

A


ndrij Melnyk guckt gern die
„Heute-Show“ – genau sein
Humor. Den späten Freitag-
abend, 22.45 Uhr, hält er sich
in der Regel frei. Er will seine
Lieblingssendung auf keinen
Fall verpassen. Melnyk, Bot-
schafter der Ukraine in der
Bundesrepublik, schätzt die

Haltung. Den Biss. Vor allem: die Angriffe


auf die Formelsprache der Politiker.


Zu gern würde er mal Oliver Welke trefZu gern würde er mal Oliver Welke trefZu gern würde er mal Oliver Welke tref--


fen, den Moderator. „Ein Mann mit Rück-


grat.“ Doch das hat sich bislang nicht er-


geben. Fast könnte man meinen, der


Botschafter suche zumindest für eine hal-


be Stunde in der Woche den Ausgleich in


einer für ihn erträglicheren Welt, weil die,


in der er sich von Berufs wegen bewegen


muss, so trist geworden ist. Melnyk ist un-


zufrieden. Sein Heimatland wird von der


russischen Armee bedroht. Es brauchte


Hilfe, Beistand. Doch die Hilfe, die der


Westen, insbesondere Deutschland, zu ge-


ben bereit ist, will sich nicht nach seinen


Vorstellungen entwickeln. Zu wenig. Zu


halbherzig. Genau genommen: ein Witz.


„Wenn ich den Humor und den Sarkas-


mus in den letzten Monaten nicht gehabt


hätte, dann wäre ich verrückt geworden“,


sagt Melnyk. Die Kriegsgefahr ist weiter


nicht gebannt. Die Meldungen sind wider-


sprüchlich. Lenkt Putin doch noch ein?


Hätte der Druck auf den Kreml-Chef und


seine „bis zu den Zähnen bewaffneten Hor-


den“, wie Melnyk die russische Armee


nennt, nicht längst deutlich erhöht wer-


den müssen? Es ist das Ende einer Woche,


in der er abermals seine Enttäuschung


über das Land, in das er vor gut sieben


Jahren gekommen ist, nicht verhehlen


kann – und schon gar nicht über Olaf


Scholz, dessen Kanzler.


Scholz war Montag in Kiew, Dienstag in


Moskau. Melnyk wäre gern in die Ukraine


mitgeflogen, seine Heimat. Er hätte den


Kanzler beim Besuch seines Präsidenten


aus nächster Nähe erleben wollen, um ein


besseres Gefühl dafür zu bekommen, wie


es um Scholzens Rückgrat tatsächlich be-


stellt ist. Aber das hat sich nicht ergeben.


Im Kanzleramt hatte man kein Interesse


an seiner Begleitung, und, ja, ganz von der


Hand weisen will der Botschafter es nicht,


dass das womöglich auch mit seinem eige-


nen Auftreten zusammenhängen könnte.


Er ist jetzt oft im Fernsehen. Bei Anne


Will. Bei Lanz. Bei Christiane Amanpour


von CNN. Sein Auftreten? Es hat in der Tat


eine gewisse Schnörkellosigkeit be-


kommen, eine Schroffheit, etwas Lautes.


Auf Deutsch, auf Englisch, ganz egal.


Normalerweise agieren Botschafter zu-
rückhaltender, dezenter. Selten sticht mal
jemand so deutlich heraus, dass er über die
einschlägige Community hinaus bekannt
wird. Der Letzte in Berlin war US-Botschafwird. Der Letzte in Berlin war US-Botschafwird. Der Letzte in Berlin war US-Botschaf--
ter Richard Grenell. Jahre her. Aber das
hing mehr mit seinen erratischen Twitter-
Botschaften zusammen, in denen er Donald
Trump tapfer verteidigte, mit seiner Blue-
Lacy-Hündin Lola, die er bisweilen durchs
Bild schleppte – und der vermeintlichen
Nähe zu Jens Spahn, der sich, lange vor
Corona, karrierehalber schon mal vortas-
ten wollte in den Dunstkreis des Weißen
Hauses. Andere Zeiten.

Schluss mit den Floskeln
Bei Andrij Melnyk liegt der Fall anders. Er
hat sich entschlossen, in diesen Krisentagen
alles Diplomatisch-Floskelhafte im Dienst
der Sache fahren zu lassen, jedes Mal ein
bisschen mehr. Zu ernst die Lage. Zu drän-
gend die Zeit. Zu zögernd das Gegenüber. Vor
allem: zu groß die eigene Verzweiflung.
Daheim in Kiew üben Freiwillige am Wo-
chenende mit Holzgewehren im Stadtpark.
Der Botschafter kann nicht verstehen, wie
die Lage den Rest der Welt offenbar kaltlässt.
Er sei jetzt ein „Rufer in der Wüste“, sagt
Melnyk. Und hofft, dass seine Stimme hält.
Fragt man ihn, wie er denn seine AufFragt man ihn, wie er denn seine AufFragt man ihn, wie er denn seine Auf--
gabe in diesen Tagen beschreiben würde,
in denen die Furcht vor einem Krieg gras-
siert, dann kommt seine Antwort prompt:
„Meine Aufgabe ist es, die Hand in die Wun-
de zu legen.“ Man könnte sagen: Melnyk
langt dahin, wo es wehtut. Im Deutschland-
funk hat er dem Kanzler kurz vor Reise-
antritt „Leisetreterei“ vorgeworfen und
Scholz aufgefordert, nach Moskau nicht nur

seinen „lässigen Pullover“ mitzunehmen,
„sondern auch im Koffer eine Sanktions-
keule“. Im Interview mit den Zeitungen der
Funke Mediengruppe hat er nachgelegt:
„Wir erwarten, dass Bundeskanzler Olaf
Scholz – auf seine elegante hanseatische Art
und Weise – nicht nur mit der Faust, son-
dern vielleicht auch mit dem Schuh – wenn
es sein muss – auf den berüchtigten lan-
gen Tisch im Kreml haut, um Herrn Putin
zur Vernunft zu bringen und seine wahn-
sinnigen Eroberungspläne zu begraben.“
Da ist alles drin. Der Tisch. Der Schuh.
Die Anspielung auf Chruschtschows le-
gendären Ausfall vor den Vereinten Natio-
nen. 1960 war das. Melnyk war noch gar
nicht geboren. Er ist erst 46. Manchmal
verschwimmen eben die Welten. Und
manchmal sind Satire und Politik nicht
mehr trennscharf auseinanderzuhalten.
Im Gegenteil. Dann wird aus Satire Politik.
Die ZDF-„Heute-Show“ hat danach ge-
twittert: „Der ukrainische Botschafter
fordert von Scholz ein ‚klares Ultimatum‘
an Putin. Er muss Scholz mit jemandem
verwechseln.“ Melnyk kommentierte das
mit drei Emojis, die sich vor Lachen weg-
schmeißen. Wie gesagt – er mag die Hal-
tung der Satiriker, den Biss. Das Rückgrat.
Andere sind weit weniger amüsiert.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich rief
Melnyk zur Mäßigung auf: „Einem Bot-
schafter steht nicht zu, einem Regierungs-
chef Vorschriften zu machen.“
Auch nicht in einem Notfall?
Er verlange viel von Deutschland, sagt
Melnyk, „das ist wahr“. Bei Anne Will saß er
Anfang Februar zur besten Sendezeit im
Studio, ein Rufer in der Wüste, aber diesmal
vor einem Millionenpublikum: „Bitte

Der ukrainische Botschafter


Andrij Melnyk hält nicht mehr viel von


diplomatischer Zurückhaltung –


Kanzler Scholz kritisiert er ganz offen


SCHLUSS MIT


DEN FLOSKELN


32 24.2.2022


POLITIK

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