Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1

Ja, auch Schröder ist enttäuscht! Besser ge-


sagt desillusioniert von der Erkenntnis, dass


er keine Dankbarkeit erwarten kann. We-


der von seiner Partei noch von uns. Viele


in der SPD seien doch erst durch ihn etwas


geworden, hat er gespottet, wenn die Aben-


de lang wurden und die Rotweine schwer.


Der Olaf, der Lars, der Frank-Walter, ande-


re wurden Staatssekretärin oder Ministerin!


Und dann schwärmt eine von denen in der


Zeitung, wie toll es war, mit Frau Merkel zu-


sammenzuarbeiten! Außerdem: Schon ver-


gessen, dass es überhaupt nur seinen guten


Beziehungen zu autoritären Präsidenten


wie etwa dem Herrn Erdoğan zu verdanken


war, dass der Menschenrechtsaktivist Peter


Steudtner, die Journalisten Deniz Yücel und


Meşale Tolu aus türkischer Haft freikamen?


Das war eben auch möglich, weil Erdoğan


auf Schröders 65. Geburtstag als Ehrengast


mit am Tisch sitzen durfte! Zum 60. Ge-


burtstag war übrigens Putin mit einem


40-köpfigen Kosakenchor erschienen. Der


schmetterte im Theater am Aegi das Nie-


dersachsenlied. Unvergesslich! Unverges-


sen auch, wie anderntags Schröders Sicher-


heit erfuhr, dass einige der kernigen Kosa-


ken bei Karstadt am Kröpcke beim Klauen


erwischt worden waren. Irgendwie haben


sie das dann diskret geregelt. Das war im


April 2004. Alles im Lack. Und er im Amt.


Im Sommer adoptierte das Ehepaar
Schröder dann ein Mädchen aus einem Kin-
derheim in St. Petersburg. Zwei Jahre später
folgte die Adoption des einjährigen Sohnes.
Manchmal relaxten sie alle auf Putins Jacht
im Schwarzen Meer. Der französische Prä-
sident Jacques Chirac war mit von der Par-
tie, als einmal plötzlich Schröders kleine
Tochter verschwunden war und alle suchen
mussten. Was für eine Aufregung! Sie hat-
te sich dann bloß in einer Kabine versteckt.
Mit seiner Abwahl im Herbst 2005 hatte
er nicht richtig gerechnet. Auch mit dem
Wutsturm nicht, der seinem Neuanfang
folgte. Bereits in der Wahlnacht hatten sei-
ne Vertrauten beraten, womit sie ihn über
den Amtsverlust hinwegtrösten könnten.
Kurs in Business-Englisch? Malkurs in der
Toskana? Er hatte ursprünglich wirklich
einmal ein „Elder Statesman“ à la Helmut
Schmidt werden wollen, aber irgendwie
waren da wohl Verarmungsängste. Die Sor-
ge, in der Versenkung zu verschwinden, wo
er sich doch aus dem Pisspott seiner Kind-
heit so schön in die Kaminzimmer und
Paläste der Macht hochgearbeitet hatte.
Sollte das alles vorbei sein? Das Herumflie-
gen, Staatsbankettieren, Männerbündeln?
Eines Nachmittags rief Putin ihn zu Hau-
se in Hannover an, er wolle den Besten für
den Job bei einer Pipeline-Gesellschaft,

sagte er. Nord Stream – das klang gut und
vernünftig: ein europäisches Konsortium,
das zu 51 Prozent dem weltgrößten und rus-
sischen Energiekonzern Gazprom gehörte.
Da würde er für die Stabilität der Energie-
versorgung Deutschlands sorgen können,
erklärt Schröder in seinen Memoiren. Er
sagte zu, hielt das Tosen der Empörung aus,
schob den Bug durch die Welle, trotzte und
schmollte. Er verstand nicht, dass alles da-
ran unklug war. „Anständiger Kerl, der Wla-
dimir“, blaffte Schröder, „mein Freund!“

F


reund? Wenn man Schröder lange genug
beobachtet hat, konnte man erleben, wie
er Freunde von heute auf morgen ver-
stieß. Ohne Erklärung, einfach so. Mit den
Worten „Das Buch Götz von Fromberg ist
geschlossen“, kündigte er seinem Anwalts-
freund. Beste Kumpel wurden durch Mil-
liardäre wie Carsten Maschmeyer („Höhle
der Löwen“) und Bernd Freier (s.Oliver)
ersetzt oder durch Matthias Warnig, Ex-
Stasi-Offizier (Deckname „Artur“) und
heute CEO der Nord Stream 2 AG, ein Pu-
tin-Vertrauter natürlich. Letztere haben
Privatflieger, sogar Jets, die er nutzen darf.
Manche der Abgelegten staunen nun,
wie er ausgerechnet Wladimir Putin durch
alle Wetter die Treue hält. Und der ihm. Es
scheint eine gegenseitige Aufwertungs-

Putin, hier 2017, zeigt sich gern mal halb nackt. Was das zu bedeuten hat? Eine Frage für Psychologen


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