Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1
ILLUSTRATION: KATRIN FUNCKE/ART

ACT/STERN

Diese Woche:
Professor Dr. Frederico Tatò,
Facharzt für Innere Medizin mit
Schwerpunkt Angiologie,
Gefäßpraxis im Tal, München

AUFGEZEICHNET VON ASTRID VICIANO;

dunkler ist als das sauerstoffreiche der
Arterien, verfärbt sich der Zeh dann blau.
Um das herauszufinden, überprüfte ich die
Durchblutung im Zeh mithilfe der Oszillo­
grafie – einer Untersuchung, die das pul­
sierende Blutvolumen im Gewebe misst.
Bei einer Akrozyanose fällt die Messkurve
normal aus. Hier dagegen sah ich keine
Kurve, sondern eine Nulllinie – was bedeu­
tete, dass den Zeh keinerlei Blut erreichte!
Nun wusste ich, woran der Patient er­
krankt war: Er litt an einem „Blue­Toe­

B


eunruhigt war der Patient zunächst
nicht, als er vor einiger Zeit in
meine Praxis kam. Seiner Fuß­
pflegerin war aufgefallen, dass der
kleine Zeh seines linken Fußes
blau verfärbt war. Er selbst hatte
es gar nicht bemerkt, hatte nur festgestellt,
dass der Zeh ein wenig schmerzte. Sein
Hausarzt hatte ihn zu mir überwiesen, um
die Symptome abzuklären.
Vor mir saß ein bis dahin gesunder Mitt­
sechziger. Als ich ihn nach seinen Be­
schwerden fragte, antwortete er
freundlich und unbekümmert:
Nein, gestoßen habe er sich
nicht. Nein, die Schmerzen
würden ihn im Alltag nicht be­
lasten. Ich untersuche ihn. Wie
erwartet, war der Zeh schmerz­
haft, als ich darauf drückte, die
dunkelblaue Verfärbung war
deutlich zu sehen. War es ein
Bluterguss? Auch wenn der Pa­
tient sich an keinen Stoß erin­
nern konnte, kann es zu Blut­
ergüssen kommen, wenn ohne
erkennbare Ursache kleine Ge­
fäße platzen. Dieses sogenann­
te Achenbach­Syndrom kommt
jedoch vor allem an den Fin­
gern vor – es erschien mir also
unwahrscheinlich.
Daher beschloss ich, mir an­
zusehen, ob die Durchblutung
im Bein oder im Fuß beein­
trächtigt war. Eine solche Stö­
rung kann zu Sauerstoffman­
gel führen, das Gewebe verfärbt
sich dann blau. Ich ertastete
den Puls der Arterien in Leis­
ten, Kniekehlen und an den
Füßen – alle waren deutlich zu
spüren. Es waren dort mit dem
Stethoskop auch keine Strö­
mungsgeräusche zu hören, die
auf eine starke Verengung der
Blutbahn hätten hindeuten
können. Auch im Doppler­
ultraschall zeigte sich keine Störung des
Blutflusses bis auf Knöchelhöhe.
Womöglich litt der Patient aber unter
einer funktionellen Durchblutungsstö­
rung, einer „Akrozyanose“: Dabei ziehen
sich die winzigen Arterien im Zeh zusam­
men, die winzigen Venen dagegen weiten
sich. Da das sauerstoffarme Blut der Venen

Syndrom“. Winzige Blutpfropfen – soge­
nannte Thromben – hatten die Gefäße im
kleinen Zeh verstopft. Womöglich hatten
sich die Thromben aus Gefäßablagerungen
in der linken Kniearterie gelöst, die ich
dann im speziellen Ultraschall entdeckte.
Auch nach einem Eingriff an Blutgefäßen
kann so etwas vorkommen, etwa an den
Herzkranzgefäßen. Oft leiden die BetrofHerzkranzgefäßen. Oft leiden die BetrofHerzkranzgefäßen. Oft leiden die Betrof­­
fenen dann an starken Schmerzen im Zeh.
Wird ein Blue­­­ToeToe­Syndrom nicht rechtzei­
tig entdeckt, kann im schlimmsten Fall das
Gewebe des Zehs absterben –
er muss in solch einem Fall
amputiert werden. Wie oft das
Syndrom vorkommt und wie
häufig die Patienten Komplika­
tionen erleiden, ist nicht genau
bekannt.
Nun musste ich noch einer
Spur nachgehen. Schließlich
wusste ich, dass manche dieser
Patienten an einer Form von
Blutkrebs leiden. Tatsächlich:
Die Anzahl der Blutplättchen
des Mannes war erhöht. Er litt
an einer „essenziellen Throm­
bozythämie“, einem langsam
fortschreitenden Krebsleiden.
Um die Durchblutung des
blauen Zehs zu verbessern, er­
hielt er zwei Wochen lang In­
fusionen mit dem lokal wirk­
samen Hormon Prostaglandin
und nahm auch Acetylsalicyl­
säure (ASS) ein. Die Blutkrebs­
erkrankung dagegen mussten
wir nicht behandeln, rieten
dem Patienten aber, sich regel­
mäßig bei einem Blutkrebs­
mediziner kontrollieren zu
lassen.
Nach drei Wochen war der
kleine Zeh nicht mehr verfärbt,
auch die leichten Schmerzen
waren verschwunden. Und ich
fühlte mich daran erinnert, wie
wichtig es doch ist, so ver­
meintlich harmlose Symptome wie einen
blauen Zeh sehr ernst zu nehmen. 2

Der kleine Zeh eines Mannes ist verfärbt. Hat er


sich gestoßen? Ein Arzt untersucht den Patienten genau


und entdeckt, dass etwas Ernstes dahintersteckt


Sein blaues Wunder erleben


40 24.2.2022


GESUNDHEIT


DIE DIAGNOSE


Die Diagnose gibt es auch zum Hören: Der gleichnamige Podcast mit stern-Redakteurin Dr. Anika Geisler erscheint alle zwei Wochen –
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80 rätselhaften Patientengeschichten, „Die Diagnose“ und „Die Diagnose – neue Fälle“, sind erschienen bei Penguin, je 256 Seiten, 10 Euro
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