Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1

R


agnar Axelssons wich-
tigste Tugend ist Ge-
duld. Für ein gutes Bild
muss man warten kön-
nen. Wie damals am
Kap Tobin am ostgrönländischen
Fjord Kangertittivaq. Nichts pas-
sierte. Axelsson fotografierte Häu-
ser im Schnee. Sonst nichts. Eine
Woche nichts.
Aber eines Morgens sichteten die
Jäger des Ortes in der Ferne fünf Eis-
bären. Sie zogen los. Trotz Sturm-
warnung. Und Axelsson zog mit. Seit
Jahren ist er mit einem von ihnen
befreundet: mit Hjelmer, einem der
besten Jäger Grönlands, sagt er.
Axelsson selbst jagt nicht. Aber er
respektiert die arktischen Jäger. Es
ist ihre Kultur. Seit Jahrtausenden.
Die Männer kämpften sich durchs
schroffe See-Eis, immer hinter den
Bären her. Hjelmer erlegte einen. „Es
ist ein trauriger Moment, wenn die
Kugel trifft“, sagt Axelsson. „Auch
für die Jäger. Sie verneigen dann ihr
Haupt. Schließlich ist das Tier der
König des Eises.“
Als Hjelmer nachladen wollte,
hatte er keine Patronen mehr. Sie
waren bei der Hatz aus seiner Tasche
gefallen. Und irgendwo da draußen
waren noch vier Eisbären. Zum
Glück kam bald Hjelmers Bruder.
Sie luden den Bären auf ihren Schlit-
ten. Nun mussten sie es nur noch
vor dem Sturm zurück ins Dorf

schaffen. Vor ihnen ein Eis-Laby-
rinth. Die Sicht wurde immer
schlechter. Stundenlang irrten sie
durch diese scharfkantige Wüste.
Und dann kam der Sturm. Und
mit ihm der magische Moment.
Vollkommen erschöpft musterte
Hjelmers Bruder den Horizont.
Axelsson erinnert sich: „Man konn-
te sehen, wie der Sturm von den
Bergen herunterkam, tobend und
wütend.“ Unruhe zeichnete sich auf
dem Gesicht des Jägers ab: Wie soll-
ten sie bei diesem Sturm überhaupt
heimfinden? Sie mussten sich noch
mehr beeilen. Aber diese Erschöp-
fung! Axelsson drückte ab.
Endlich ein echtes Bild. Kein Eis-
bär, kein Blut, kein Sturm. Nur ein
Gesicht, ganz nah, das von alldem
erzählt. Vom harten Leben im Eis.
Von einer jahrtausendealten Kultur,
die bald endet.
Der Blick des beunruhigten Jägers
steht symbolisch für die Sorgen der
Menschen in den Polarregionen. In
den zurückliegenden Jahren lernte
Axelsson, was die Bewohner der
Arktis verbindet: „All diese Men-
schen sind vereint in ihrer Verunsi-
cherung über ihre Zukunft“, sagt er.
Seit nunmehr 40 Jahren durch-
streift der isländische Fotograf jetzt
schon die Arktis. Anfangs war der
heute 63-Jährige einfach fasziniert
vom Leben unter Extrembedingun-
gen. Als Kind hatte er die Berichte

der großen Polarforscher verschlun-
gen und wollte wissen, wie es im ho-
hen Norden wirklich aussah. Dazu
kam seine frühe Leidenschaft fürs
Fotografieren. Die hatte ihm sein
Vater vermittelt, ein Amateurfoto-
graf. Als sein Sohn zehn Jahre alt
war, lieh er ihm seine Leica. Damit
besuchte der Junge Verwandte auf
ihrem abgelegenen isländischen
Bauernhof. Dort machte Axelsson
seine ersten Bilder.

Zauber der Dunkelkammer


Schon damals war seine Devise:
Nimm eine kurze Brennweite, dann
musst du näher ran. So bekommst
du eine echte Beziehung zu den
Menschen. Das ist besser, als Bilder
mit dem Teleobjektiv zu stehlen.
Zusammen mit seinem Vater entwi-
ckelte Axelsson die Bilder in der
Dunkelkammer. Der Zauber, der das
Bild zum Vorschein bringt, nahm
ihn für immer gefangen. Seitdem
fotografiert er am liebsten in
Schwarz-Weiß. „Das lässt der Vor-
stellungskraft mehr Platz“, sagt er.
Als er das erste Mal nach Grönland
kam, befiel ihn die Leidenschaft für
die Arktis wie ein Virus. Er wurde sie
nie wieder los. In dieser Landschaft
wollte er anfangs einfach nur gute
Bilder machen. Klimawandel war
noch kein großes Thema. Aber eines
Tages, 1989, oben in Qaanaaq, einer
der nördlichsten Siedlungen der
Welt, traf er einen alten Mann. Er saß
vor einem Haus, schaute in die Fer-
ne und sagte: „Da stimmt was nicht.
Das große Eis ist krank.“
Von da an hatte Axelsson sein Le-
bensthema. Er wollte versuchen,
diesen Wandel zu dokumentieren.
Aber wie soll man das in einem Bild
festhalten? Manche Fotografen ste-
cken einen Inuit in traditionelle
Kleidung, fahren ihn in einem Boot
auf eine wackelige Eisscholle und
stellen ihn in Pose, in der Hoffnung,
auf diese Weise ein ikonisches Bild
vom Klimawandel zu schaffen.
Aber Axelsson inszeniert nichts.
Wie früher als kleiner Junge mit Pa-
pas Kamera geht er ganz nah ran an
die Menschen. Hört sich ihre Ge-
schichten an, versucht, ihren Alltag
festzuhalten und die Schönheit der
Landschaft, in der sie leben. Wer die-
se Bilder betrachtet, kann nicht an-
ders, als zu sagen: „Ich will nicht,
dass das verschwindet.“ 2
Stephan Maus

Kap Tobin,
Grönland, 2013
Erschöpfter
Jäger nach der
Eisbärhatz.
Es gilt
eine strenge
Abschussquote
pro Jahr

Ragnar
Axelsson, 63
Seit 40 Jahren
zieht es den
isländischen
Fotografen ins
arktische Eis.
Retrospektive:
Kunstfoyer der
Versicherungs-
kammer Kultur-
stiftung München
(bis 18.4.22)
Katalog: „Where
the World is
Melting“, Kehrer,
49,90 Euro

Ein Gesicht, das vom harten Leben im Eis


erzählt, von einer Kultur, die endet


68 24.2.2022

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