Um zu wissen, wie es Deutschland
gerade geht, kann man einiges tun.
Viel Zeitung lesen, Statistiken stu
dieren, Psychologen befragen, Kreiß
säle und Kirchen besuchen, was auch
immer. Man kann es sich aber auch
einfacher machen und in die kleine
Stadt Stockach am nördlichen Zip
fel des Bodensees fahren. Idyllische
Altstadt, 17000 Einwohner, der Gast
hof heißt „Zum Goldenen Ochsen“,
das Tattoostudio „Cry later“ und die
Eisdiele, na klar, „Venezia“. Aber das
ist es noch nicht. Etwas abseits, in
einer ruhigen, kleinen Hangstraße,
lebt Matthias Reim, und den muss
man nur anschauen und ihm zu
hören, um zu wissen, wie es dem
Land gerade geht.
Aber nicht dem Land, das in Talk
shows oder in der Ampelkoalition
verhandelt wird, nein, tiefer, wei
cher, irgendwo da, wo Hormone und
Herzen toben. Da, wo sich geliebt und
sich verlassen wird, wo geheiratet
und geschieden wird, wo Menschen
U
bankrottgehen und sich wieder be
rappeln und wo irgendwann auch
mal der Körper streikt, weil man in
diesem Bohei, dem Leben also, die
Bremse nicht gefunden hat. Nach
ein, zwei Stunden mit Matthias
Reim hat man dieses zigtausend
fach im Kleinen gelebte Deutsch
land in einer Person erlebt. Und
wenn man wieder wegfährt, kann
man sich das im Auto weiter anhö
ren. „Matthias“ heißt sein aktuelles,
sein 19. Album, und da singt er dann:
„Es war nicht geplant, doch an Zu
fall glaub ich nicht. Als ich dich er
blickte, war’s wie ein Faustschlag ins
Gesicht. Ich kann nicht anders, gehe
rüber an die Bar zu dir und frag dich
mit gesenktem Blick: ,Geht’s dir
auch so schlecht wie mir?‘“
Ja, schon klar, die alte Anmache
von vorgestern, wer datet sich denn
noch an einer Bar mit solchen Sprü
chen, Holzfäller vielleicht. Aber:
Viele von Matthias Reims Alben der
vergangenen Jahre gingen bei Er
scheinen gleich an die Spitze der
Charts, allein bei Spotify hat Reim
mehr als 1,4 Millionen Hörer mo
natlich, und sein ewigster und größ
ter Hit, der 1990 auch sein Durch
bruch war, „Verdammt, ich lieb’
Dich“, zählt dort über 61 Millionen
Abrufe. Das sind nicht Holzfäller,
sondern die ganz normalen Men
schen, die nicht die Zeit und die
Worte wie „Dein Anblick hat mich
irgendwie emotional berührt“ ha
ben, sondern sich mit „War wie ’n
Faustschlag“ kurzfassen und die
lange therapeutische Ehekrisen
gespräche mit „Verdammt, ich lieb’
Dich, ich lieb’ Dich nicht“ abkürzen.
Im Unterschied zum austauschba
ren teflonglatten Schlagerschaum
anderer ist Reim mit seiner kerni
gen BrachialPoetik so was wie der
Kanalarbeiter der Emotionen.
H
inzu kommt, dass der
Mann so aussieht, als ob er
nicht nur weiß, wovon er
singt, sondern dieses verdammte
Leben auch Spuren an ihm hinter
lassen hat. Furchen, Falten, eine Ge
fühlslandschaft. Dazu eine Stimme,
die rau und kieselig aus den Tiefen
des Mannseins erzählt. Er ist jetzt
64, und der Nachteil jeder Fotografie
von ihm ist, dass sein stillstehendes
Gesicht viel felsiger wirkt als sein
lebendiges, das sehr viel lacht, sehr
lebhaft erzählt und in dem seine
blauen Augen immer wieder jun
genhaft aufblitzen. Er kann in sei
nem Studio in Stockach auch nicht
lange still sitzen, springt auf und
läuft auf seinen schmalen, elasti
schen Beinen herum, als ob jedes
Zimmer eine Bühne wäre. Garderobe
meistens Jeans, gern in „stone
washed“, weiße Sneaker und Karo
Matthias
Reim vor seinem
Studiohaus
in Stockach nahe
dem Bodensee
und im November
2019 bei einem
Konzert in
Dortmund
72 24.2.2022