Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1
Jochen Siemens hörte
tagelang Reim-Lieder,
um im Thema zu sein,
Fotografin Djamila
Grossman auf der Rückfahrt auch noch
die Songs von Reims Frau Christin Stark

Gleich auf dem nächsten Album
sang er: „Ich hatte mal ’n Haus. Ich
lebte echt in Saus und Braus. Die
große Welt war mir zu klein, was gut
war, musste besser sein. Mein Sockel
war so hoch, ich dachte oft, ihr könnt
mich doch.“ Und später auch noch:
„Ich bin doch sowieso für dich das
Letzte. Ich kann doch sowieso nichts
mehr verlier’n. Mein Seelenleben
hängt total in Fetzen...“ Und es
funktionierte, aber zunächst nicht
in ganz Deutschland, sondern vor
allem im Osten des Landes.

D


resden, Chemnitz, Leipzig,
die Hallen und Open-Air-
Wiesen füllten sich, wenn
Reim kam. Ironischerweise der
Reim, der dabei gewesen war, in
ihrem Land billig zu kaufen, um
reich zu werden, und nun ganz arm
dastand. „Dass einer wie ich auf die
Bühne geht und aus seinem Elend
auch noch Songs macht, das haben
sie respektiert“, sagt er heute. Außer-
dem „mochten sie, dass ich auf
Deutsch singe, das hat im Osten eine
andere Bedeutung, weil sie dort mit
Bands wie Karat groß geworden sind
und in deutschen Texten sehr viel
entdecken, während im Westen Eng-
lisch die Sprache der Popmusik war.“
Und sicher hat auch sein Hang zur
Selbstironie geholfen. Für den
Werbespot eines Autoverleihers
schrieb er seinen größten Hit in
„Verdammt, ich hab nix“ um. Seine
stellenweise fast masochistische
Art, von Scheitern und Bankrott zu
erzählen, kam dort gut an, wo sie das
alles kennen. Ja, das ostdeutsche
Publikum hat ihn gerettet, und wie
zum Dank startet Reim seine
Tourneen seither gern in Dresden.
„Inzwischen habe ich aber auch den
Westen überzeugt, die Konzertsäle
sind voll“, sagt Reim.
Dresden, Chemnitz, alles Hoch-
burgen von AfD, Pegida und Quer-
denkern. Ob er das spüre? „Nein, in
meinen Konzerten überhaupt nicht.“
Und ob er das zum Thema seiner
Songs machen würde? „Auch nicht,
ich bin kein politischer Sänger, und
es erwartet von mir auch niemand.“
Matthias Reim ist auf eine andere
Art politisch, man könnte sagen, er
ist ein Harmonisierer, wenn er auf
seinem neuen Album singt: „Da gibt
es acht Milliarden Träumer, du
und ich sind auch dabei. Mit dem

gleichen Traum von einer besseren
Zeit.“ Das große Umarmen ist seine
Agenda. Empfindlich wird er nur,
wenn die Vergleiche nicht mehr
stimmen, wenn Impfgegner klagen,
man sei ja nahe dem „Dritten Reich“.
„Nichts ist mit dem Elend unserer
Eltern und Großeltern zu verglei-
chen, dagegen ist die Corona-Epide-
mie ein Lacher“, stellte er neulich in
einem Interview klar.
Wenn man aus seinem Studio-
haus in Stockach über die Straße
sieht, blickt man auf das Haus, in
dem er wohnt. Mit seiner Frau, der
Sängerin Christin Stark, die zurzeit
schwanger ist. Es ist ihr erstes Kind,
für Reim ist es das siebte, genauer:
das siebte von sechs Frauen. Er lebt
in seiner vierten Ehe. Man kann
schon etwas durcheinanderkom-
men, und die Idee liegt nahe, dass
Matthias Reim im Privaten viel-
leicht auch so ein Hibbel ist wie auf
der Bühne. Aber irgendwo müssen
die ganzen Geschichten vom Sich-
Ver- und Entlieben ja herkommen,
mit denen er seine 19 Alben voll-

gesungen hat, denn eigentlich geht
es, von den Schicksalserzählungen
mal abgesehen, immer nur darum.
„Na ja, einen Song über meine
Steuererklärung würde auch keiner
hören wollen“, hat er mal gesagt.
Und in einem Land mit knapp
144 000 Scheidungen im Jahr erzählt
er damit auch viel über Deutsch-
land. Also ja, sagt Reim, das waren
schon turbulente Zeiten, aber es sei
am Ende immer friedlich ausge-
gangen. Das war ihm wichtig, keines
seiner Kinder sollte darunter leiden,
„und wenn Ferien sind, kommen sie
alle zu Papa“.

U


nd dann erzählt er noch die
Geschichte seiner ältesten
Tochter, die schon deutlich
über 40 ist und von der er jahrelang
nichts wusste. Irgendwann habe sie
sich gemeldet und ihm gesagt, sie
habe gerade erfahren, dass nicht
ihr Vater ihr Vater sei, sondern er,
Matthias. Und da fiel es ihm wieder
ein, sein erstes Mal, er war 16 und die
Frau in einer Diskothek in seiner
Heimat schon etwas älter. Und da sei
es halt passiert, er habe die Frau
auch nie wiedergesehen, die danach
schwanger geheiratet habe und den
Mann im Glauben ließ, das Kind
sei... Herausgekommen ist dann
alles bei einer zufälligen Blutunter-
suchung und dem Geständnis der
Mutter, dass der wahre Papa der
„Verdammt“-Sänger ist. Reim lacht,
wenn er das erzählt, „wir haben uns
dann getroffen, und ich habe gesagt:
Mein Herz ist groß, welcome in der
Familie.“ Und Reim wäre nicht Reim,
wenn er nicht gleich den Song „Das
erste Mal“ daraus gemacht hätte:
„Weißt du noch, wie schnell das ging,
es war mir ja so peinlich, ich wusst
halt nich, ob ich das bring...“
Wenn man an diesem Nachmittag
im Auto Matthias Reim und sein
Haus im Rückspiegel sieht, fällt
einem ein ganz anderer Song oder
besser ein Gedicht ein. Vom Popstar
Rilke: „Du musst das Leben nicht
verstehen, dann wird es werden wie
ein Fest.“ 2

Gefühlsland-
schaft: Matthias
Reim im
Februar 2022

„Ein Lied über


meine Steuererklärung


will keiner hören“


meine Steuererklärung


will keiner hören“


meine Steuererklärung


74 24.2.2022

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