Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1

FOTOS: GETTY IMAGES (2); ACTION PRESS; DDP


sie gegen die Berufung des Kandi-
daten Brett Kavanaugh an das
Oberste US-Gericht demonstrierte.
Einige Frauen hatten Kavanaugh se-
xuelle Übergriffe vorgeworfen.
Seit ihrer Politisierung hat Rataj-
kowski zunehmend auch weibliche
Fans. Eine Feministin, die schön und
nackt ist, ist eine willkommene
Antithese zum unrasier-
ten, Latzhose tragenden
Mannweib mit Damen-
bart, das viele immer
noch mit dem Begriff Fe-
minismus verbinden.
Ratajkowski spielt be-
wusst mit dieser Wir-
kung. 2019 zeigte sie sich
auf Instagram im schwar-
zen Spitzen-BH und mit
Achselhaar. Vor allem
ihre weiblichen Fans fei-
erten sie dafür. Sie setze
damit ein Zeichen gegen
den Zwang, sich rasieren
zu müssen. Und dafür,
dass jede Frau sich so zei-
gen könne, wie sie möch-
te – auch nackt.
Und trotzdem: Der
vermeintliche Wider-
spruch aus Schönheit
und Feminismus scheint
auch in Ratajkowski
selbst noch nicht geklärt.
Sie wirkt nicht versöhnt
mit ihrem Beruf. Auch
deshalb ist ihr die litera-
rische Aufarbeitung so
wichtig. „Es fühlte sich
gut an, ein Buch zu schreiben, je-
mand zu sein, der etwas macht. An-
statt nur eine Requisite darzustel-
len, ein Objekt“, sagt sie am Telefon.
Ihre Stimme klingt nachdenklich.
„Bei einem Fotoshooting hat man
über nichts die Kontrolle. Wie sie
deine Haare machen, dein Make-up,
entscheiden, was du trägst, wie
du fotografiert wirst. Es ist Teil des
Jobs, möglichst allem zuzustim-
men“, sagt sie. Nur um im nächsten
Moment klarzustellen, dass sie
trotzdem keinen anderen Job hätte
machen wollen: „Mein Aussehen
verleiht mir eine unbestreitbare
Macht. Ich bin berühmt, und be-
rühmt wurde ich durch meine
Erscheinung und meinen Körper.
Ich bin mir nicht sicher, ob mein
Buch diese Plattform bekommen

hätte, die es jetzt hat, wenn ich nicht
so bekannt wäre und so viele Follo-
wer hätte.“
Die Gegensätzlichkeit, die Rataj-
kowski in sich vereint, fällt ihr selbst
auf. „Ein Grund, warum ich dieses
Buch geschrieben habe, ist, um die
grauen Töne zu zeigen und die Wi-
dersprüche, die sehr kompliziert
sind“, sagt sie. „Die Dinge, mit denen
ich immer noch zu kämpfen habe.“
Worauf sie hinauswill: Ratajkow-
ski bekam mit ihrem Aussehen zwar
Macht über manche Männer und
dadurch auch Jobs – am Ende waren
es aber doch wieder Agenten, Produ-
zenten, Fotografen, die über ihren
Körper bestimmten. Sie wünschte
sich auf die andere Seite der Macht,
statt bloß Wünsche umzusetzen
und zu hungern, bis die Finger
zittern.

A


m meisten zweifelte Rataj-
kowski an ihrer Stärke,
wenn Männer sexuell über-
griffig wurden. In dem bekanntesten
Essay ihres Buches beschreibt sie,
wie der Fotograf Jonathan Leder sie
2012 missbraucht habe. Nach einem
Nacktshooting habe er sich neben
sie aufs Sofa gesetzt, seine Finger
schmerzhaft in sie gedrückt. Wie
traumatisierend das war, bemerkte
Ratajkowski erst, als sie darüber
schrieb. „Ich habe mich so geschämt.
Wenn ich jetzt daran denke, fühle ich
mich immer noch so: beschämt. Für
die Art, wie ich mitschuldig war“,
sagt Ratajkowski. Sie weiß, dass
keine Frau daran Schuld hat, wenn
ein Mann sie belästigt, übergriffig
wird, vergewaltigt. Und doch ließ
der Gedanke sie nicht los. Auch weil
es laut ihrer Erzählung nach einem
Fotoshooting passierte, für das sie
nackt und lasziv posiert hatte.
Leder ist nicht der einzige Mann,
der sexuell übergriffig geworden
sein soll. Immer wieder musste sie
diese Erfahrung machen.
Und an dieser Stelle lässt sich ein
Bogen zurück zu Instagram span-
nen. Weil es die einzige Plattform
ist, auf der Ratajkowski, zumindest
zeitweise, das Gefühl hat, die Kon-
trolle zu haben. „Als ich Instagram
entdeckte, fühlte sich das aufregend
an. Anstatt dass andere Menschen
meinen Körper und mein Gesicht
und mein Bild benutzten, konn- 4

24.2.2022 81

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