Tobias Schlegl:
See. Not. Rettung.
Meine Tage an
Bord der Sea-Eye 4,
Piper, 224 Seiten,
16 Euro
22222
Wir haben uns super verstanden, obwohl
ich vorher nicht wusste, ob ich in dieser
Enge funktionieren würde. Ich brauche
eigentlich Freiraum. Aber man ist an Bord
so beschäftigt, dass man keine Zeit hat,
über so etwas nachzudenken. Das Denken
kommt erst hinterher.
Mit Stefan und einer Intensivkranken
schwester bildeten Sie das medizinische
Team. Was war Ihre Aufgabe?
Das war eine sehr intensive Zeit. Innerhalb
von 24 Stunden hatten wir fünf Einsätze.
Während dieser Einsätze stand ich mit
Marlene in der ersten Reihe. Wir
waren für die Triage zuständig,
guckten also jeden an. Wie kri
tisch ist der? Es gab einige Leute,
die sich gerade noch auf den
Beinen hielten und dann be
wusstlos wurden. Das waren
sehr heikle Momente. Da muss
man die kritischsten Fälle her
ausfiltern und sofort auf die
Krankenstation bringen. Zum
Glück konnten wir alle stabili
sieren, selbst den, der später
evakuiert werden musste.
Welche Momente waren besonders be
wegend?
Einige Bilder haben sich eingebrannt. Etwa
das von dem dreijährigen Mädchen, das ich
in den Arm gedrückt bekam. Sie schrie und
hat sich an mir festkrallt, als wollte sie nie
wieder loslassen. Das werde ich nie ver
gessen. Wir waren alle sehr glücklich, dass
es nicht zum WorstCaseSzenario kam.
Was ist das Schlimmste, das passieren
kann?
Dass man zusehen muss, wie Menschen er
trinken. Das wird man nie mehr los. Die
sogenannte libysche Küstenwache liefert
sich Wettrennen mit den Seenotrettern.
Viele Flüchtende haben mehr Angst, aufViele Flüchtende haben mehr Angst, aufViele Flüchtende haben mehr Angst, auf
gegriffen und zurückgebracht zu werden,
als davor zu ertrinken. Sie springen in
Panik ins Wasser, obwohl sie nicht schwim
men können.
Die Bezeichnung „libysche KüstenDie Bezeichnung „libysche KüstenDie Bezeichnung „libysche Küstenwawa
che“ setzen Sie in Anführungszeichen.
Weil das keine Küstenwache ist, sondern
eine bewaffnete Miliz, die mit den Schlep
pern zusammenarbeitet. Sie wird von
Frontex mindestens indirekt unterstützt.
Die europäischen Grenzschützer beobach
ten die Gewässer aus der Luft und melden
die Koordinaten Geflüchteter auf dem
Meer letztlich auch an die sogenannte Küs
tenwache. Die versucht obendrein, See
notrettungsschiffe einzuschüchtern.
Wovor fürchten sich die Menschen so
sehr, dass sie als Nichtschwimmer ins
Meer springen?
Vor dem, was sie in den Lagern erlebt hat
ten, bevor sie auf ein marodes Boot stie
gen: Folter und Vergewaltigung. Für viele
ist alles besser als Libyen, sogar der Tod.
Einige der Frauen, die wir retteten, erzähl
ten, wie es ihnen ergangen war: Sie waren
aus ihren Heimatländern vor Gewalt, Ter
ror und Verstümmelungen geflohen und
teils jahrelang unterwegs. In den libyschen
Lagern wurden sie dann zur
Prostitution gezwungen, um das
Geld für die Schlepper zusam
menzukriegen.
Wann endet ein Seenotret
tungseinsatz?
In dem Moment, in dem man
entscheidet, die Geretteten an
Land zu bringen. Sollte dann
noch ein Notruf eingehen, muss
man gucken: Wie viele sind kri
tisch? Gibt es Hochschwangere?
Reichen die Vorräte? Die Ent
scheidung gegen eine weitere
Rettung ist ein sehr schwieriger Moment für
den Kapitän oder die Kapitänin. Bei uns ging
kein Notruf mehr ein, wir hatten 408 Men
schen an Bord und einige kritische Fälle. Da
war klar: Wir fahren jetzt Richtung Sizilien.
Wie ging es weiter?
Die Suche nach einem sicheren Hafen be
gann. Das ist meistens die viel, viel an
strengendere Phase, weil man nicht weiß,
wann man einen zugewiesen bekommt.
Sie wandten sich via Twitter an den da
maligen Außenminister Heiko Maas
und baten um Unterstützung, weil die
„SeaEye 4“ unter deutscher Flagge fuhr.
Hat er sich gemeldet?
Kurz vor Ihrer Ausbildung zum Notfall
sanitäter sagten Sie dem stern 2016:
Wenn ich nur ein Menschenleben rette,
hat sich die Anstrengung gelohnt. Gin
gen Sie mit derselben Motivation an Bord
des Seenotrettungsschiffs „SeaEye 4“?
Absolut. Allein das Baby, acht Monate alt,
dehydriert, hohes Fieber, und der unter
kühlte achtjährige Junge waren es wert. Die
wären sonst gestorben. Mich haben Flucht
und Migration schon immer tief berührt,
aber ich spürte eine unfassbare Ohnmacht.
Das änderte sich erst, als ich Notfallsani
täter wurde und etwas tun konnte. Ich
wollte den Finger in die Wunde der euro
päischen Außenpolitik legen und auch ein
Zeichen der Menschlichkeit setzen.
Wie meinen Sie das konkret?
Es geht um Öffentlichkeit. Um das Sicht
barmachen des Unrechts. Ich habe mit eige
nen Augen gesehen, wie an die 100 Men
schen, darunter viele Jugendliche, in einem
kleinen Holzboot auf dem Meer trieben,
Wasser drang ein, kein Land in Sicht. Aus
gerechnet für Berichte darüber – und sowie
so für meine Haltung zur Seenotrettung –
bekam ich auf Social Media jede Menge Hass
ab. Dabei ist es doch der kleinste gemein
same menschliche Nenner, dass man denen,
die in Not sind, hilft. Allen Menschen, egal,
wer sie sind und woher sie kommen.
Die „SeaEye 4“, deren Crew Sie angehör
ten, rettete im Mai 2020 vor Libyen 408
Menschen aus havarierenden Booten.
Genau genommen waren es 412, wir hat
ten vier Schwangere an Bord, die an Land
ihre Kinder zur Welt brachten.
Wie kamen Sie auf den Verein SeaEye?
Direkt nach der Ausbildung fragte Gorden
Isler, der Vorsitzende, ob ich mir vorstellen
könnte, da mitzumachen. Das konnte ich
mir überhaupt nicht vorstellen: Seenotret
tung ist das, was wir beim Rettungsdienst
MANV nennen, Massenanfall von Ver
letzten. Die größte Herausforderung. Ich
brauchte erst mal Praxis, aber die Saat war
gesetzt und keimte.
Sie teilten eine kleine Kajüte mit Stefan,
einem Arzt, der deutlich älter war,
schnarchte und früh den Wecker klingeln
ließ. Unterdrückt ein gemeinsames An
liegen alle Egoismen?
K
Schlegl, 44, moderierte bei Viva, NDR und ZDF.
Über seine Erfahrungen als Sanitäter
schrieb er 2020 den Bestseller „Schockraum“
94 24.2.2022
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