Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1
Vielleicht, denkt Hüse-Vielleicht, denkt Hüse-
yin, nachdem er zum yin, nachdem er zum
ersten Mal die Wohnung ersten Mal die Wohnung
in Istanbul betritt, die in Istanbul betritt, die
er sich von seinem er sich von seinem
Ersparten aus 30 Jahren Ersparten aus 30 Jahren
harter Arbeit in Deutschharter Arbeit in Deutsch-
land gekauft hat, vielland gekauft hat, viel-
leicht war jede Hürde, jeder Zwiespalt
in deinem Leben nur dazu da, um irgend-
wann hier oben zu stehen. Und dann
stirbt er. In 48 Stunden muss er nach
muslimischer Tradition begraben sein.
Seine Familie reist Hals über Kopf
aus Deutschland an, jeder mit seinen
eigenen Sorgen, Vorhaben, Geistern
im Kopf. Fatma Aydemir hat mit
„Dschinns“ einen umwerfend dichten,
vielschichtigen Roman geschrieben.
Ein großes Familienepos. (Hanser
24 Euro) 22222

ROMAN


Massimo Carlotto, Massimo Carlotto,
Mafia-Experte und Mafia-Experte und
Meister des italie-Meister des italie-
nischen Kriminal-nischen Kriminal-
romans, nimmt uns romans, nimmt uns
mit in ein entlegenes mit in ein entlegenes
Tal im Nordosten des Tal im Nordosten des
Landes. Dahin folgt Landes. Dahin folgt
der wohlhabende Bruno der jüngeren
Federica, Tochter einer in finanzielle
Schieflage geratenen Unternehmer-
dynastie. Als Bruno, im Dorf stets als
Fremder beäugt, bei einem Anschlag
verletzt wird, übernimmt der traurige
Wachmann einer Bank, der Frau und
Kind verloren hat, die Suche nach
den Schuldigen und wird zum Strip-
penzieher. „Und es kommt ein neuer
Winter“ ist eine wunderbar verwickel-
te, mit einem Augenzwinkern kompo-
nierte Geschichte um Betrug und
Verrat. (Folio, 22 Euro) 22222

ROMAN


Über Fehlgeburten
wird fast immer nur
im engsten Kreis
gesprochen. Und
drum herum? Eigent-
lich gar nicht. Dabei
erlebt statistisch
„Jede 3. Frau“
mindestens einmal eine Schwanger-
schaft mit vorzeitigem Ende. Und
muss mit dem Kummer, der Trauer,
dem Versagensgefühl und – nicht
zuletzt – den hormonellen Kapriolen,
denen sie danach ausgesetzt ist,
meist ziemlich allein klarkommen.
Ein Schicksalsschlag, der möglichst
schnell keine Rolle mehr spielen soll.
Natascha Sagorski lässt nun 25 betrof-
fene Frauen ihre Geschichte erzählen.
Und schnell ist klar, wie gut es wäre,
wenn das noch viel mehr täten. (Kom-
plett-Media, 18 Euro) 22222

SACHBUCH


Die Stiftung stern unterstützt die
Seenotrettung von Geflüchteten auf dem
Mittelmeer und leitet Ihre Spende
an ausgewählte Hilfsorganisationen weiter.
Einfach scannen und spenden:
IBAN DE90 200700000469950001
Stichwort „Flüchtlinge Mittelmeer“;
http://www.stiftungstern.de

Welche Politiker würden Sie gern auf eine
Mission mitnehmen?
Ursula von der Leyen. Als EU-Kommis-
sionspräsidentin ist sie mitverantwortlich
dafür, dass an den europäischen Außen-
grenzen Menschenrechte missachtet wer-
den. Mehr als 20000 Menschen sind seit
2014 im Mittelmeer ertrunken bei dem
Versuch, Europa zu erreichen. 2021 waren
es rund 2000, allein um Weihnachten her-
um 200. Es muss endlich eine staatlich
organisierte Seenotrettung geben. Das
kann man nicht nur Vereinen wie Sea-Eye
überlassen, die dafür Spenden sammeln
müssen und deren Engagement immer nur
ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann.
Wen noch?
Bundesinnenministerin Nancy Faeser, sie
könnte einiges bewirken. Es gibt über 270
deutsche Städte und Gemeinden, die gern
Geflüchtete aufnehmen würden. Horst
Seehofer hat ihnen das stets verwehrt.
Nancy Faeser könnte diese menschen-
feindliche Politik beenden und Geretteten
eine Perspektive geben.
Die SPD-Fraktion Nordrhein-Westfalen
hat Sie als Delegierten in die 17. Bundes-
versammlung geschickt. Sie waren am 13.
Februar in Berlin dabei. Wie fühlt es sich
an, den Bundespräsidenten zu wählen?
Es war trotz Pandemie-Verhältnissen sehr
feierlich. Meine Nominierung habe ich als
Anerkennung aufgefasst, dass die Themen,
für die ich mich einsetze, wichtig sind.
Frank-Walter Steinmeier hat gesagt:
„Jeder, der mit anpackt, bringt die De-
mokratie zum Leuchten.“ Was würden
Sie ihm gern für die zweite Amtszeit
mitgeben?
Was Worte angeht, und mehr kann er ja
nicht tun, hat er bisher einen guten Job
gemacht. Er könnte vielleicht noch welche
über die Seenotrettung verlieren. Ein Bun-
despräsident in Rettungsweste, der sich
vor Ort auf einem Schiff informiert, wäre
auch ein starkes Zeichen. 2

Nein, aber der Post wurde sehr oft geteilt.


Wir hatten dann das Glück, dass ein Sturm


aufkam – ein starkes Argument, uns ein-


laufen zu lassen.


Sie sind Ehrenbürger von Palermo. Wie


kam es dazu?


Palermo hat einen migrationsfreund-


lichen Bürgermeister. Leoluca Orlando


wollte uns einlaufen lassen, das haben die


italienischen Behörden verhindert und


uns noch mal halb um die Insel geschickt


in den Südosten. Das gehört zur Zermür-


bungstaktik. Aber Orlando hat uns später


für unser Engagement ausgezeichnet.


Ihr Einsatz war sicher sehr anstrengend.


Das war wahnsinnig anstrengend. Wenig


Schlaf, Tag und Nacht in Alarmbereit-


schaft. Als alle sicher an Land waren, bin


ich auch erst mal zusammengebrochen


und war ein paar Tage richtig krank.


Und die „Sea-Eye 4“ fuhr wieder raus?


Keineswegs. Erst musste die Crew zehn


Tage in Corona-Quarantäne, obwohl ich


selbst regelmäßig der Crew und sogar allen


Geretteten das Wattestäbchen in die Nase


gesteckt hatte und wir keinen einzigen


positiven Fall hatten. Schlimmer war, dass


sie das Schiff über Wochen festhielten


wegen angeblicher Mängel.


Sie vermuten Schikane?


Ja. Die europäischen Staaten haben sich


anscheinend darauf verständigt, die priva-


ten Seenotrettungsschiffe zu blockieren,


wo es nur geht. Wäre das anders, könnten


sie viel mehr Menschenleben retten.


Was dachten Sie, als Sie zurück nach


Hamburg kamen und dort Kreuzfahrt-


schiffe liegen sahen?


Die habe ich schon in Palermo gesehen. Das


fühlt sich an, wie im Rettungsdienst


jemanden reanimiert zu haben und auf


dem Nachhauseweg im Supermarkt zu


hören, wie andere über das neue iPhone


diskutieren: eine Parallelwelt. Ich kann


nicht nachvollziehen, wie man auf Kreuz-


fahrtschiffen in diese Happy-Blase eintau-


chen und ausgerechnet auf dem Mittel-


meer völlige Verdrängung betreiben kann.


Aber ich habe eine Idee: Sollten in der


Pandemie welche pleite gegangen sein –


in der Seenotrettung könnte man sie gut


gebrauchen.


Können Sie das Meer noch als etwas


sehen, das Freude macht?


Es war ein sehr befreiender Moment, als wir


in Sizilien alle erst mal ins Meer gesprun-


gen sind. Aber mich unbefangen an Mit-


telmeerstrände legen, das geht nicht mehr.


24.2.2022 95

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