Der Stern (2022-02-24)

(EriveltonMoraes) #1
FOTO: SELINA PFRÜNER/STERN

de Sexleben jammert. Sie vertraut sich
Sofas an, unscheinbaren Topfpflanzen,
vorlauten Handys, eifersüchtigen Zahn-
bürsten. Dem Aschenbecher, der ihr schon
vor Monaten geraten hatte, den Freund zu
verlassen. Schon damals wusste sie, wie
recht er hatte.
Mit den Dingen in ihrem Leben führt sie
jene Gespräche, die sie mit Menschen
schon lange nicht mehr führen kann. Ganz
alltägliche Gegenstände werden zu Freun-
den und Vertrauten. Das kommt beim Le-
sen kein bisschen schräg oder abgehoben
daher, im Gegenteil, es wirkt sehr real, man
ist mittendrin im richtigen Leben.

E


lendes. Arsch. Gesicht. Je ein
Wort auf je einer Seite. Mit
diesen drei fast leeren Sei-
ten fängt es an. Und ich be-
zweifle, dass „Alles spricht“
mein Buch wird. Mit dem
nächsten Satz aber, der 27 Wörter
hat, ist klar: Das wird mein Buch.
„Der ganze Unterschied zwischen
den ersten und letzten Worten
an den Menschen, den man liebt,
besteht darin“, steht da, „dass man
sich die letzten so gut wie nie aus-
sucht.“
Die letzten Worte an den Freund,
der sie nach fünf Jahren Bezie-
hung verlässt, lauten also: Elendes.
Arsch. Gesicht.
Das sagt eine Frau, gerade mal 30,
die fest im Leben steht, alles hatte,
was man so braucht. Festen Freund,
guten Job, tolle Wohnung. Bis das
schöne Leben innerhalb weniger
Wochen zerbröselt. Freund weg,
Job weg, Wohnung weg. Sie hat kein Geld
und keine Ahnung, wo es langgehen
könnte, wo das Leben mit ihr hinwill.
„Du solltest mit jemandem darüber spre-
chen“, schlägt ihr das Sofa vor. „Mit einem
Profi, ich bin nur ein Sofa aus Polyester,
das seit zwei Jahren nicht mehr gereinigt
wurde.“ Sie weiß, dass das Sofa nicht ganz
falsch liegt.
Die Frau spricht mit einem Sofa?
Alles spricht mit ihr, schon seit sie ein
Kind ist. Sie fragt und bekommt Antwor-
ten. Tipps, Lebensweisheiten, ungebetene
Ratschläge und auch Beschwerden, wie die
von ihrer Vagina, die über das brachliegen-

Vor allem ist es brillant geschrie-
ben. Fein, lebensklug, auf sanfte Art
nachdenklich und sehr, sehr wit-
zig. Gerade wenn man denkt, man
rutscht in zu viel Traurigkeit hinein,
haut ein einziger Satz einen wieder
in den Alltag zurück. Nie, wirklich,
nie ist die Sprache dieses Romans
platt, derb oder gar geschmacklos.
Der Autor Nicolò Targhetta ist
Italiener, Mitte 30, schreibt auf
Facebook Kurzgeschichten, mit
denen er täglich mehr als 140 000
Menschen erreicht. „Alles spricht“
ist sein erster Roman.
Er schreibt über die Lebenskrise
einer Frau, als sei es seine eigene.
Was dem Thema Verlassenwerden,
Alleinsein einen anderen Klang,
eine andere Melodie gibt. Man
spürt, da schreibt einer, der schon
einmal verlassen wurde und auch
schon einmal verlassen hat.
Einen Roman, in dem eine Frau
mit Dingen spricht, finden Sie trotz allem
ziemlich merkwürdig?
Fragen Sie mal bei Ihrem Sofa oder
Ihrem Aschenbecher nach. Ich bin sicher,
die werden Ihre Bedenken sehr schnell
ausräumen. 2

Moderatorin, Journalistin und Autorin
Christine Westermann liebt Bücher. Hier stellt sie
alle zwei Wochen ihre Neuentdeckungen vor

FOLGE 11


„Alles spricht“ von
Nicolò Targhetta,
übersetzt von Verena
von Koskull, Kunstmann,
288 Seiten, 22 Euro

Couchgespräch,


ganz anders


96 24.2.2022


KULTUR


WESTERMANN LIEST

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