Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
10 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.

TITEL UKRAINE-KRIEG

Morgens aufwachen, und der Machthaber
eines anderen Staates greift das eigene Land
an. Man kann eines Morgens aufwachen, und
das alte Leben ist weg. Man wollte zur Vor-
lesung gehen und streift stattdessen eine Uni-
form über.
Die Zerstörung einer Ordnung – das ist es,
was die Welt am Morgen des 24. Februar er-
lebt. Putin zeigt, dass diese Ordnung wackli-
ger und morscher war, als der Westen es wahr-
haben wollte. Was an dem Tag eingetreten
ist, sollte eigentlich nie wieder passieren: ein
Angriffskrieg in Europa, der Grenzen und
Machtsphären gewaltsam verschieben soll.
Der deutsche Sicherheitsexperte Carlo
Masala sagt: »Der Westen ist durch seinen
eigenen Idealismus blind geworden für die
Tatsache, dass es Akteure gibt, die bereit sind,
hohe Kosten zu zahlen und militärisch sehr
rücksichtslos vorzugehen.« Er fügt hinzu:
»Ich glaube, dass wir in eine Phase offener,
rücksichtsloser Macht- und Interessenpolitik
seitens der Großmächte eintreten. Und dass
Europa die Bildung von Gegenmacht –
militärisch, politisch, ökonomisch – viel stär-
ker in den Blick nehmen muss als bisher
geschehen.« (Siehe auch Seite 12.)
Am Donnerstag um sechs Uhr früh Mos-
kauer Zeit meldet sich Wladimir Putin zu
Wort, mit einer Rede an die Nation. Es ist
faktisch eine Kriegserklärung an die Ukraine,
aber sie ist fahrig und verworren, man ver-
steht auch nach 25 Minuten nicht ganz, was
denn nun eigentlich der Grund für die »spe-
zielle militärische Operation« ist, wie Putin
den Angriff nennt. Die beginnt mit einer At-
tacke gegen die Vereinigten Staaten und den
Westen überhaupt, der in Jugoslawien, Liby-
en, Syrien und dem Irak Unheil gestiftet habe

und ein »Imperium der Lüge« darstelle, wie
»amerikanische Politiker, Politologen und
Journalisten« mittlerweile selbst sagten. Der
Westen zwinge Russland fremde Werte auf,
die »zu Niedergang und Aussterben führen,
weil sie der Natur des Menschen widerspre-
chen« (offenbar ein Hinweis auf die Ehe für
alle). »Trotzdem« habe Russland im Dezem-
ber 2021 das Gespräch über Sicherheitsgaran-
tien und ein Ende der Nato-Erweiterung ge-
sucht, vergebens.
Der argumentative Bogen führt von
Schwulenehe bis zur Nato-Erweiterung, be-
vor er endlich bei der Ukraine landet. Der
Nachbarstaat werde von der Nato »militärisch
angeeignet« und zu einem »feindlichen Anti-
russland« ausgebaut. »Für unser Land ist es
eine Frage von Leben und Tod, eine Frage
unserer historischen Zukunft als Volk.« Es
verblüfft, welch geringe Rolle das bislang
vorgeschobene Argument eines angeblich
unmittelbar drohenden »Genozids« an den
russischsprachigen Bewohnern der selbst
ernannten Separatistenrepubliken im Don-
bass in Putins Rede spielt: Es war noch am
Montag als Hauptgrund für ein militärisches
Eingreifen genannt worden. Am Ende gibt
Putin sich noch nicht einmal Mühe, einen
halbwegs glaubwürdigen Vorwand für seinen
Krieg zu schaffen.
Die Ziele der Invasion, die Putin in seiner
Rede nennt, sind weitreichend: Putin erklärt,
dass er eine »Demilitarisierung« der Ukraine
wolle – faktisch bedeutet das wohl eine voll-
ständige Zerstörung ihrer Streitkräfte. Weiter
kündigte er eine »Entnazifizierung« und eine
»gerichtliche Verfolgung jener, die zahlreiche
und blutige Verbrechen gegen die friedliche
Bevölkerung, darunter russische Bürger«, ver-

übt hätten. Das scheint eine Bestätigung der
US-Warnungen zu sein, wonach Russland
bereits Listen von Gegnern angelegt hat.
Wer nicht die Seite wechselt oder flieht, wird
inhaftiert oder getötet. Das Ziel scheint zu
sein, ein russlandtreues Marionettenregime
in Kiew zu installieren. Und ausgerechnet
Wolodymyr Selenskyj, den jüdischen Präsi-
denten der Ukraine, erklärt Putin damit
indirekt zum Nazi.
Außerdem will Putin offenbar Referenden
in allen ukrainischen Gebieten abhalten. »Alle
Völker auf dem Territorium der Ukraine«
sollten endlich die »Freiheit der Wahl« haben,
ob sie dem Staat überhaupt angehören woll-
ten. Er spricht also nicht nur von den Russen.
Am Mittwoch hatte das russische Staatsfern-
sehen bereits eine Karte gezeigt, auf der alle
Gebiete markiert waren, die der Ukraine an-
geblich »geschenkt« worden seien. Als eigent-
liche Ukraine war nur ein kleines Fleckchen
in der Mitte markiert.
Eines der ersten Opfer von Putins Krieg
ist ein Vater aus Tschuhujiw im Osten der
Ukraine. Er stirbt, als am Donnerstag eine
Rakete in einem Wohnviertel einschlägt. Sei-
ne Angehörigen verhüllen den Leichnam mit
einer Decke.
Zehn Minuten nach der Ausstrahlung von
Putins Rede sind in der ostukrainischen Stadt
Kramatorsk die ersten Explosionen zu hören;
in der Stadt befindet sich ein Hauptquartier
der ukrainischen Armee im Kampf gegen die
Separatistenrepubliken im Osten. Auch in der
Hauptstadt Kiew, in der Grenzstadt Charkiw,
der zweitgrößten Stadt des Landes, und selbst
in Iwano-Frankiwsk, einem Ort weit im Wes-
ten, in Richtung Polen, sind Explosionen zu
hören.
Russische Streitkräfte dringen aus fast allen
Himmelsrichtungen in die Ukraine ein. Sie
kommen aus der Luft, über das Wasser, zu
Land.
Russische Kriegsschiffe blockieren den
Schwarzmeerhafen Odessa im Süden. Von
Osten rollen Panzer nach Charkiw. Überwa-
chungskameras zeigen, wie Militärfahrzeuge
von der russisch besetzten Halbinsel Krim
aus die Grenze zur Ukraine überqueren. Und
selbst aus Belarus im Norden rücken russische
Truppen ein. Moskau hatte rund 30 000 Sol-
daten in das Nachbarland verlegt – offiziell
für Militärübungen.
Dass Russland von Belarus aus mit Rake-
ten und Truppen den Nachbarstaat Ukraine
angreift, zeigt, wie Putin den Staat von
Diktator Alexander Lukaschenko sieht: als
Territorium, über das er nach Belieben mili-
tärisch verfügen kann, als Puffer zur Nato
und als Aufmarschgebiet für Offensiven. Es
macht deutlich, wie geschwächt Lukaschenko
inzwischen ist. Der sah sich lange Jahre als
Vermittler zwischen Moskau und Kiew, weil
in seiner Hauptstadt zweimal über eine Bei-
legung des Donbass-Konflikts verhandelt und
die Minsker Vereinbarungen geschlossen wor-
den waren. Doch seit er nach der gefälschten
Präsidentschaftswahl Proteste niederschlagen

In Putins Zange


Der russische Überfall auf die Ukraine

Atomkraftwerk

Ölraffinerie

Militärflughafen

russische Truppenkonzentration
Truppeneinmarsch

Militärhauptquartier

BELARUS RUSSLAND

POLEN

RUMÄNIEN

MOLDAU

moskautreue
Separatisten-
gebiete

von Russland
annektierte Krim

†‡‡ km

SˆQuellen: Rochan Consulting, Stand: 24. Februar; Estonian Foreign Intelligence Service

Charkiw

Sumy
Hostomel

Tschernobyl
(außer Betrieb)

UKRAINE

Odessa

Kiew

Mykolakjiw

Iwano-Frankiwsk

Donbass

CharkiwCharkiwCharkiwCharkiwCharkiwCharkiwCharkiwCharkiwCharkiw

moskautreuemoskautreuemoskautreuemoskautreuemoskautreuemoskautreuemoskautreuemoskautreuemoskautreue

Mykolakjiw

DonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbassDonbass

Kramatorsk
Luhansk
Donezk

Tschuhujiw

GRAFIK WIRD HEUTE ABEND AKTUALISIERT

Cherson

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