Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
100 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

KULTUR


M


an kann auch Kunst, die sich verflüchtigt, ausstellen. So-
gar solche, die der Betrachter einatmet. Nämlich dann,
wenn sie aus Luft besteht. Die Werke im Kunstmuseum
Bonn pusten, dampfen, hauchen und schweben. Im Ausstellungs-
raum spuckt eine Nebelmaschine Wölkchen aus, draußen sorgt ein
Industrieventilator für Sturm. Gemalt wurde Luft spätestens seit
der Renaissance, als Wolken, Wind oder Nebel. Seit der Moderne
ist Luft auch ein Werkstoff. Die Ausstellung »Welt in der Schwebe.
Luft als künstlerisches Material« (bis 19. Juni) hat zahlreiche Luft-

nummern zusammengetragen: Heliumballons von Andy Warhol,
die Fotografie eines 85-Meter-Luftschlauchs von Christo und
Jeanne-Claude, Luftkapseln in einem Kaugummiautomaten von
Yoko Ono. Je flüchtiger die Werke sind, desto reizvoller erscheinen
sie. Manches dürfte dem Betrachter auch offenbaren, wie sich
unser Blick auf Luft mit Covid-19 geändert hat, seit die Menschheit
über Aerosole und den Mund-Nasen-Schutz spricht. Wenn das
Performance-Liebespaar Marina Abramović und Ulay im Video
gegenseitig seinen Atem inhaliert, wirkt das fast befremdlich. CPA

Luftnummern


KUNST Die Bonner Ausstellung »Welt in der Schwebe« zeigt Kunst aus Gasgemischen.


Schmerzhaftes
Schreiben
LITERATUR Auf die Frage, was
sie tun würde, wenn sie zwischen
dem Leben ihres Vaters und
dem Schreiben wählen müsste,
hat sie keine Antwort. Denn
sein Tod brachte Leïla Slimani
zum Schreiben. »Natürlich

müsste man sagen: Ich hätte lie-
ber niemals geschrieben, und
du wärst noch bei uns, und wir
hätten nicht gelitten. Aber ich
weiß nicht, ob ich das sagen
kann.« Das offenbart die franzö-
sisch-marokkanische Schriftstel-
lerin in ihrem autobiografischen
Roman »Der Duft der Blumen
bei Nacht«, in dem sie sich mit

dem Schaffensprozess von Lite-
ratur auseinandersetzt. Als
Anlass dient ihr eine Nacht in
Venedig, dort lässt sie sich in ein
Museum einsperren und philoso-
phiert über Kunst und feminis-
tischen Ak tivismus. Für den Ver-
lust ihres Vaters ist sie dankbar,
weil der Schmerz ihre Schrift-
stellerei antreibt. Er ist wie eine

Krankheit, von der man nicht ge-
heilt werden will. Solche bewe-
genden Erkenntnisse machen das
Buch zu Slimanis persönlichstem


  • schon für die poetische Sprache
    lohnt sich seine Lektüre. STG


Otto-Piene-
Installation
»Stars«, 2014,
in Zürich 2020

Leïla Slimani: »Der Duft der Blumen
bei Nacht«. Luchterhand; 160 Seiten;
20 Euro.

Estate Otto Piene / Sprüth Magers / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Foto: Stefan Altenburger

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