Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 101

Cooler Zocker


KINO Selten sah Glücksspiel so
sehr nach Arbeit aus wie in
Paul Schraders Film »The Card
Counter« (Start: 3. März).
Der Held, der sich William Tell
nennt, hofft nicht auf den gro­
ßen Coup, sondern setzt statt­
dessen auf viele kleine Gewin­
ne. Umgeben von Menschen,
die mit ihren Nerven kämpfen,
geht er mit Kalkül vor. Schrader
und sein großartiger Hauptdar­
steller Oscar Isaac machen aus
dem Stoff eine streckenweise
fesselnde Charakterstudie und
zeigen das in Filmen oft verklär­
te Casino als unglamourösen
und dennoch aufregenden Ort.

Gern schaut man Tell dabei zu,
wie er mit Coolness und Stil­
bewusstsein Gegner abzockt.
Leider rollt Schrader, der einst
das Drehbuch zu »Taxi Driver«
(1976) schrieb und als Regisseur
Meisterwerke wie »American
Gigolo« (1980) schuf, auch die
Vergangenheit von Tell auf. Der
war als Soldat im Gefängnis von
Abu Ghuraib an Folterungen
beteiligt. In manchen Szenen
spürt man eindringlich, dass er
diese Erfahrungen niemals
hinter sich lassen wird. Doch
Schrader verknüpft die beiden
Erzählebenen nicht überzeu­
gend miteinander. »The Card
Counter« zerfällt fast in zwei
verschiedene Filme. LOB

100 Jahre Pasolini


FILME Am 5. März ist Pier
Paolo Pasolinis 100. Geburts­
tag. Das Schaffen des Ausnahme­
regisseurs mit der Wiederauf­
führung eines einzigen Films zu
würdigen ist eigentlich unmög­
lich. Paso lini schuf etliche
Meisterwerke, aber nicht das
eine Schlüsselwerk, anhand des­
sen sich seine schöpferische
Bandbreite vom Neorealismus
über Volkstheaterschwänke bis
zur unerbittlichen Faschismus­
studie erklären ließe. Trotzdem
kommt nun ein Film anlässlich
des 100. Geburtstags wieder
in die Kinos: »Mamma Roma«
aus dem Jahr 1962. Eine Mutter,
die alles für ihren Sohn tut. Das
ist die Geschichte des Filmdra­
mas, das Pasolini wie so viele
seiner Werke Beschwerden we­
gen mora lischer Anstößigkeit
einbrachte. Es ist aber auch die
Geschichte Pasolinis. Als er
1950 in der geliebten Heimat
Friaul einen Skandal auslöste,
weil ihm homosexuelle Hand­
lungen angelastet wurden, war
es seine Mutter, die mit ihm
nach Rom zog. Bis zu Pasolinis
Ermordung 1975 sollten sie eine
Wohnung in der Stadt teilen,
die ihn wie keine Zweite inspi­
rierte: zunächst zu Romanen
über das örtliche Lumpenprole­

tariat, dann zu den ersten Regie­
arbeiten »Accatone« (1961) und
»Mamma Roma«. In der Titel­
rolle ist Anna Magnani als Pros­
tituierte zu sehen, die für ein
besseres Leben für sich und
ihren Sohn kämpft. Ihre Pläne
machen erst ihr ehemaliger Zu­
hälter, dann der Sohn zunichte.
Doch wenn sie wild gestikulie­
rend durchs nächtliche Rom
läuft und so die Blicke auf sich
zieht, zeigt sie, wie wenig ihr
das Urteil anderer anhaben
kann. Als Einladung, sich dem
Werk Pasolinis so unvoreinge­
nommen wie möglich zu nä­
hern, könnte es vielleicht doch
keinen besseren Film geben. HPI

Skulpturen für die Ewigkeit


AUSSTELLUNGEN Einige der Exponate
sind 2600 Kilogramm schwer, so wie
die »Sleeping Woman«, das Porträt einer
Obdachlosen in Los Angeles, die der
amerikanische Bildhauer Charles Ray
bei einem Spaziergang fotografierte und
zum Vorbild für seine Skulptur nahm. Er
ließ sie aus rostfreiem Stahl anfertigen;
so könne sie sogar einen Atomangriff
überstehen, sagt er. Der in Europa nur
wenig bekannte Charles Ray, 1953 in
Chicago geboren, macht seit Jahrzehn­
ten Skulpturen für die Ewigkeit und
verbindet antike Vorbilder mit zeitge­
nössischer Gesellschaftskritik an seiner
Heimat USA. In Paris werden nun seit
vergangener Woche 38 seiner Werke in
einer Doppelausstellung gezeigt. Sie
sind noch bis zum Juni im staatlichen
Museum Centre Pompidou und in der
privaten Kunstsammlung des Milliardärs
François Pinault in der Bourse de Com­
merce zu sehen. Beide Ausstellungsorte
liegen nur zehn Minuten voneinander
entfernt. Es ist das erste Mal, dass ein
staatlicher und ein privater Träger eine

gemeinsame Retrospektive organisieren.
Und es soll nach Bekunden beider
nur der Auftakt einer längerfristigen Zu­
sammenarbeit sein. Die Kooperation
war von Beginn an eng, Pinault ist gut
vernetzt in der Pariser Kunstwelt. Aber
die Doppelausstellung offenbart auch
die ungleichen Verhältnisse zwischen
beiden Institutionen: Pinault besitzt
22 Werke von Ray, das Centre Pompidou
kein einziges. Und es könnte sich auch
keines leisten: Die Skulpturen des Bild­
hauers erzielen Preise zwischen zwei
und drei Millionen Dollar – das ist unge­
fähr so viel, wie dem Pompidou pro
Jahr für den Erwerb von Kunstwerken
insgesamt zur Ver fügung steht. Und so
hat der Milliardär dem Museum mehrere
Werke geliehen, darunter die monu­
mentale Skulptur »Family Romance«,
eine nackte Familie, die der Künstler auf
das Kindermaß von 1,35 Meter redu­
zierte. Das Spiel mit Maßen und Dimen­
sionen ist ein konstantes Motiv bei Ray:
Anfang der Neunzigerjahre schuf er eine
Serie von Schaufensterpuppen, die er
um 30 Prozent im Vergleich zur realen
Größe aufblähte. BSA

Isaac, Tye Sheridan
in »The Card Counter«

Skulptur »Fall ’91«,
1992, Künstler Ray

Filmplakat zu »Mamma Roma«

Focus Features

Charles Ray / courtesy Matthew Marks Gallery / Foto: Anthony Cunha

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