Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
KULTUR

102 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

D


ie Villa, in der Jil Sander arbeitet und
ihren Showroom hat, liegt nur wenige
Schritte entfernt von jener Straßen­
ecke, an der sie 1968 ihr erstes Geschäft er­
öffnete. Die hohen, prächtigen Räume sind
perfekt renoviert, aber schlicht ge halten, wei­
ße Wände, wenige Möbel, einzelne minima­
listische Kunstwerke. Die räum liche Nähe von
heute und damals, von der weitläufigen Patri­
ziervilla und der ersten Boutique, verbild­
licht den enormen Erfolg der Designerin. Als
sie Ende der Sechzigerjahre ihre Entwürfe
fertigte, war sie Auto didaktin. Gut 20 Jahre
später ging sie mit dem Unternehmen Jil San­
der an die Börse, 1999 verkaufte sie die Ak­
tienmehrheit für geschätzte 200 Millionen
Mark an die Prada­Gruppe.
Zu einer Zeit, in der Frauen in der BRD
oft noch traditionellen Rollenbildern folgten,
war sie bereits eine erfolgreiche Geschäfts­
frau. Vor allem aber prägte Jil Sander, 78, den
Blick der Welt auf Mode aus Deutschland.
Für ihre lässig­eleganten Entwürfe wurde
sie in Mailand, New York und Tokio gefeiert.
Früh erkannte sie, welche entscheidende
Rolle Accessoires im Modegeschäft spielen
würden; sie entwickelte auch Parfüms und
Kosmetikprodukte. Dafür warb sie in den
Achtzigerjahren mit ihrem eigenen Gesicht.
Trotzdem ist sie als Person selten in Erschei­
nung getreten. Anders als ihre männlichen
Kollegen hat sie stets ihre Entwürfe in den
Mittelpunkt gerückt und wich selbst dem
Rampenlicht aus.
Der Wunsch, ein größeres SPIEGEL­Ge­
spräch mit ihr zu führen, währt schon lange.
Im vergangenen Winter willigt sie ein, sich zu
einem Kennenlernen zu treffen. Es wird aber
schnell klar, dass sie dem Treffen eher aus
Höflichkeit zugestimmt hat. Aus ihrer Sicht
gibt es keinen rechten Grund, noch einmal in
die Öffentlichkeit zu treten, ihr Lebenswerk
wurde vielfach gewürdigt, auch mit einer Aus­
stellung im Frankfurter Museum Angewand­
te Kunst. Eine zweite Begegnung findet zehn
Monate später Anfang November 2021 statt;
wenige Tage später soll ihre letzte Kollektion
für die japanische Textilkette Uniqlo in die
Geschäfte kommen. In ihrem Showroom hän­
gen sämtliche Teile, sie hat die Entwürfe unter
den Titel »Ende des zweiten Kapitels« gestellt,
und womöglich sind es die letzten von Jil San­
der entworfenen Kleider. Es ist zu spüren, wie
sehr sie in ihrem Element ist, wenn sie Dinge
gestalten kann. Das wird auch deutlich, sobald

sie von ihrem Garten bei Plön spricht, in dem
es zum Beispiel eine Wiese nur für Schnitt­
blumen gibt, die sie aber selten pflückt, weil
sie im Garten eben noch schöner wirken.
Jil Sander willigt ein, Fragen für den
SPIEGEL schriftlich zu beantworten. Es ist ein
Entgegenkommen – von ihrer Seite aus und
vonseiten des SPIEGEL, denn schriftlich ge­
führte Interviews machen wir selten. »Das
Auge ist klüger als die Sprache«, schreibt sie
in einer Antwort.

SPIEGEL: Frau Sander, es ist fast 50 Jahre her,
dass Sie Ihre erste Kollektion entworfen ha­
ben. Wie erreicht man als Modedesignerin
Zeitlosigkeit?
Sander: Vielleicht, indem man sie gar nicht
sucht. Als ich anfing, wollte ich Frauen unse­
rer Zeit gemäß kleiden. Ich habe mich an ihren
Bedürfnissen, nicht an Modediktaten orien­
tiert. Seither war es für mich wichtig, die
Gegenwart ästhetisch und funktional in Mode
zu übersetzen. Es hat mir auch geholfen,
selbst eine Frau zu sein, die mit den Angebo­
ten nicht zufrieden war und sich fragte, was
ihr fehlt. Und durch meine frühe Beschäfti­
gung mit zeitgenössischer Kunst habe ich
wahrscheinlich eine Sensibilität für Moderni­

tät und unverbrauchte Aussagen entwickelt:
Der Minimalismus hat mir gezeigt, dass Neu­
es nicht laut daherkommen muss. Vermutlich
gibt auch der Verzicht auf Ornamente meinen
Kollektionen eine gewisse Zeitlosigkeit.
SPIEGEL: Sie wurden oft als »Queen of Less«
bezeichnet. Finden Sie das zutreffend?
Sander: Ich habe selbst früh »pure« zur
Umschreibung meines Ideals ins Gespräch
gebracht und meine erste Kosmetiklinie so
benannt. Im Englischen ist der Begriff un­
belasteter als im Deutschen.
SPIEGEL: Was sind Ihre Kriterien für einen
gelungenen Entwurf?
Sander: Es fällt mir schwer, sie zu abstrahie­
ren. Das Auge ist klüger als die Sprache. Ich
bin lange mit dem Fitting der Prototypen be­
schäftigt, in dieser Phase arbeite ich auch mit
den Schnittmeistern. Manchmal möchte ich
einen Entwurf in die Ecke werfen, aber ich
habe gelernt, nicht zu schnell aufzugeben. Für
mich steht die dreidimensionale Entfaltung
im Zentrum. Bei der Entwicklung der Schnit­
te, Silhouetten und Proportionen helfen mir
auch innovative Stoffe. Es ist verblüffend, wie
stark ein gut geformter Mantel uns motivieren
und positiv beeinflussen kann. Seit Mode vor
allem digital vermarktet wird, ist diese Di­
mension im Design nicht mehr selbstverständ­
lich, denn Fotos fangen die entsprechende
Dynamik selten ein. Wenn ein Entwurf mir
gefällt, dann hat er Energie und korrespon­
diert mit anderen Elementen einer Kollektion.
SPIEGEL: Sie wurden im norddeutschen, kar­
gen Dithmarschen geboren. Hat dieser Land­
strich Sie geprägt?
Sander: In Dithmarschen bin ich nur zur Welt
gekommen, meine Mutter war aus Hamburg
zu ihren Eltern geflüchtet. Die Entbindung
fand in einem Militärlazarett statt. Aber die
Kindheit habe ich in Hamburg verbracht, das
nach den Bombenangriffen auch sehr karg
und versehrt war. Aber es gab unverstellte
Weiten, den hohen Himmel, den Wind und
ziehende Wolken.
SPIEGEL: Wie sind Sie aufgewachsen?
Sander: Ich bin mit meiner Mutter, meinem
jüngeren Bruder und dem zweiten Mann mei­
ner Mutter in der Nähe einer Schokoladen­
fabrik an den Elbbrücken aufgewachsen. Mein
Ersatzvater führte dort eine Magirus­Deutz­
Niederlassung. Er hat mit mir oft über neues
Autodesign diskutiert, für ihn war Ästhetik
wichtig. Das Verhältnis zu meinem Bruder
ist immer noch sehr persönlich und fürsorg­

»Ich bin eine Mantelfrau«


MODE Jil Sander hat geschafft, was in ihrer Branche nur den wenigsten gelingt: einen unverwechselbaren Look
zu prägen, der sich weltweit durchsetzte. Nun zieht sie Bilanz ihres Lebens und ihres Schaffens.

Designerin Sander 1991

Courtesy Peter Lindbergh Foundation

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