KULTURNr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 109Marica! Erst als sich der Geländewagen
entfernte und an der nächsten Kreuzung ver
schwand, wurde mir bewusst, dass sie meinen
Sohn nicht mitnehmen würden, und ich brach
zusammen. Meine Knie konnten die Last der
Angst, die mich plötzlich überströmt hatte,
nicht mehr tragen. Sie wollten so viel Unter
drückung und Leid nicht länger dulden. Mein
Sohn beugte sich über mich und weinte ganz
leise. Er interessiert sich leidenschaftlich für
Mathematik und möchte einmal ein erfolg
reicher Arzt werden. Aber hier, auf dem toten
Mutterboden dieses Landes, soll er sich statt
dessen ein Gewehr auf die Schultern hieven
und in den Krieg ziehen.
Und das alles für Überzeugungen, die die
Welt nur noch düsterer machen werden. An
der Seite der Aasgeier soll er für noch mehr
Zerstörung in der Welt kämpfen. Noch mehr
Zerstörung, noch mehr Tod. Dabei sollten
doch seine einzigen Schützengräben Wissen
schaft und Forschung sein. Und sein einziger
Kampf der für Bildung und eine fruchtbare
Zukunft. Ich bin mit meinem Sohn nach Hau
se gerannt und habe mit meinen beiden Töch
tern gleich wieder den Ort gewechselt, bin
um ein weiteres Mal an einem fremden Ort
in einer mir immer fremder werdenden Stadt
untergekommen.
Marica! Ich habe das Bett verlassen. Ich
habe den letzten Satz Deines Briefes noch
einmal gelesen, es war das Zitat von Viktor
Frankl, dem Psychiater, der Auschwitz über
lebt hat: »Der Mensch ist das Wesen, das
immer entscheidet, was es ist!?«
Und ich entscheide – stärker als alle Ge
genkräfte –, dass ich aufstehen werde von
diesem Bett. Und so werde ich auch diesen
Ort verlassen können. Das Land. Meine ganze
Vergangenheit. Ich muss alles, was ich besitze,
und alles, was ich aufgebaut habe, zurück
lassen und mich, bepackt mit einer müden
Seele und Angst vor einer Zukunft, in der für
mich noch alles im Dunkeln liegt, weiter
schleppen. Ich muss weiter, weiter, weiter. Bis
ich zu einem Ort gelange, an dem ich diesem
Nichtsein, diesem Nichtgewesensein, wieder
ein Werden, eine Lebendigkeit verleihen,
es – mit den Worten Frankls – mit Sinn ver
binden kann. Wo ich grünen, wachsen und
wurzeln kann, und das alles nicht allein, son
dern mit allen meinen Kindern.
Meine ganze Zukunft lang und mit jedem
neuen Morgen werde ich wachsen. Ich werde
ein großer Baum sein, mit starken Wurzeln,
die die Erde durchziehen, sodass weder Sturm
noch Flut ihn erschüttern können. Danke,
Marica, dass Du mir diesen Brief rechtzeitig
geschickt hast. Er ist für mich zu einem Licht
fenster geworden, in dem ich mein Gesicht,
wie die Sonnenblumen, dem Sonnenschein
zuwenden kann.
Wirklich, Marica. Wünsche Dir etwas für
mich. Wünsche mir die Kraft, weiterzuma
chen. Wünsche mir, nicht müde zu werden.
Dass ich den Mut nicht verliere. Dass ich
weitergehe. Weiter, weiter, weiter.
Bete für mich, Marica. n1 (10) Yasmina Reza
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Allein zwischen Himmel und Meer
C. Bertelsmann; 24 EuroBELLETRISTIK SACHBUCHIm Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestsellerDer türkische Literatur
nobelpreisträger erzählt
davon, wie im Jahr 1901
auf der Mittelmeerinsel
Minger die Pest aus
bricht – und sich Mus
lime und Christen
gegenseitig die Schuld
daran geben. | Platz 5Der Autor schrieb
die Biografien
von Stars wie Jan Fedder
und Didi Hallervorden,
nun porträtiert er
den 100jährigen
StalingradÜberlebenden
HansErdmann
Schönbeck. | Platz 12022-09SPAllKultur612992209_BriefausKabul-108109 1092022-09SPAllKultur612992209_BriefausKabul-108109 109 24.02.2022 19:05:4624.02.2022 19:05:46