Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
KULTUR

Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 115

E


s gab eine Zeit, in der die Jahre
der Jugend ohne Smartphone
dahingingen. Kein Instagram,
kein TikTok. Der Drang, sich in Sze-
ne zu setzen oder sich mit buntem
Quatsch abzulenken, existierte aber
immer schon. In den Achtzigern zum
Beispiel galt ein Walkman als Aus-
bund technischer Raffinesse, als
coolstes Accessoire von Teenagern.
Wer heute 50 ist, wurde damals groß;
es scheint ein anderes Zeitalter ge-
wesen zu sein.
Die amerikanische Schriftstellerin
Vendela Vida, 50, erzählt vom Auf-
wachsen während dieser Zeit in Sea
Cliff, einem Stadtteil San Franciscos,
in dem die Straßen zum kühlen, meist
nebligen Strand hinunterführen und
die Häuser große Panoramafenster
haben mit Blick auf die Golden Gate
Bridge. »Die Gezeiten gehören uns«
heißt ihr Roman auf Deutsch, ein et-
was sperriger Titel für dieses clevere
Buch, in dem viel Humor aufblitzt
und verstörende Szenen sich wie
nebenbei ereignen.
Erzählerin ist die junge Eulabee, die
am Anfang der Geschichte vor allem
als Wir-Erzählerin auftritt, so verbun-
den fühlt sie sich mit ihren Freundin-
nen Faith, Julia und Maria Fabiola.
»Wir sind dreizehn, fast vierzehn, und
die Straßen von Sea Cliff gehören
uns«, lautet der erste Satz. Jeden Tag
gehen die vier zusammen den Weg zur
Schule, er führt vorbei an Häusern, in
denen Rockstars wohnen oder Ver-
brechen stattgefunden haben. Weil Sea
Cliff über dem Pazifik liegt, ist es ein
beliebter Stadtteil, Anfang der Acht-
zigerjahre können auch die Eltern von
Eulabee, ein Antiquitätenhändler und
eine Krankenschwester, sich hier noch
ein Haus leisten. Unter den Mädchen
spielt es keine große Rolle, wer wie
reich ist, die Währung, die für sie zählt,
ist Aufmerksamkeit.
Maria Fabiola zieht davon viel
auf sich, sie trägt schmale Armreife,

die bei jeder Geste klimpern, und seit
einiger Zeit spannt der Stoff ihrer
Oberteile, ihre Haare sind zu einer
Mähne geworden. Eulabee mag ihre
Freundin viel zu sehr, als dass sie
neidisch wäre, aber sie beobachtet
die Reaktionen auf Maria Fabiola
genau.
Für ihre junge Heldin Eulabee hat
die Schriftstellerin Vendela Vida
einen unsentimentalen, frischen Ton-
fall gefunden, der den Roman von der
ersten Seite an besonders macht. Die
Welt der Erwachsenen bildet für die
13-Jährige nur das Hintergrundrau-
schen zu ihrem eigenen Leben und
dem ihrer Freundinnen. Katastro-
phen wie der Selbstmord von Faiths
Vater oder der wirtschaftliche Abstieg
von Julias Eltern und deren Sorge
um die ältere, drogensüchtige Halb-
schwester werden mit jener distan-
zierten Coolness geschildert, die vie-
len Teenagern eigen ist. Diese erste
Umbruchphase im Leben ist das The-
ma von Vidas Roman, wobei sie eben
besonders die Mädchen im Blick hat
mit ihrer Launenhaftigkeit und Cou-
rage, mit ihrer Überspanntheit und
Widerstandskraft.

Auf dem Weg zur Schule kommen
die Freundinnen eines Morgens an
einem parkenden Auto vorbei, dessen
Fahrer sie nach der Uhrzeit fragt. Eu-
labee guckt auf ihre Swatch-Uhr, sagt
ihm, es sei kurz nach acht, und die
Mädchen gehen weiter. Ein paar
Schritte weiter fragt Maria Fabiola:
»Habt ihr das gesehen?« Eulabee weiß
nicht, wovon die Rede ist. »Der hat
sich angefasst«, sagt Maria Fa biola.
Und einfach so, ganz leicht, ist eine
Lüge in der Welt. Faith, die erst nach
dem Vorfall zu den Freundinnen
stößt, erfährt schon eine etwas aus-
geschmückte Geschichte und ist
gleich Feuer und Flamme. »Das gibt
den Skandal«, sagt Maria Fabiola.
Kreischen und Entzücken. Nur Eula-
bee zieht nicht mit, sie sagt den Poli-
zisten, die die Mädchen später be-
fragen, wie es wirklich gewesen ist.
Fortan schneiden Maria Fabiola,
Faith und Julia sie. Und aus der Wir-
Erzählerin wird eine Ich-Erzählerin,
die lernen muss, sich allein zu be-
haupten: auf einer Party bei den
Nachbarn, als deren älterer Sohn sie
in einem halb dunklen Zimmer bittet,
sich auf seinen Schoß zu setzen, und
mit seinen Händen ihre Hüften be-
wegt. Oder als sie Keith trifft, den
Jungen mit dem Skateboard, und
sich einen Song lang seinen Walkman
ausleiht.
Ganz selbstverständlich streut
Vendela Vida die Trends und Themen
der Achtzigerjahre ein und macht
auf diese Weise deutlich, dass die
Sehnsucht nach Aufmerksamkeit im-
mer schon existiert hat. Das Vergnü-
gen daran, ein Tabu zu brechen und
sich im Mittelpunkt des Interesses zu
sonnen, kann zu verlockend sein. Die
Geschichte mit dem Mann im Auto
ist nur der Auftakt. Bald darauf ist
Maria Fabiola verschwunden. Repor-
ter belagern die Schule, Eulabees
Mutter sagt ihr Aerobic-Training ab.
»Ich weiß, wenn sie nicht zum Aero-
bic geht, ist die Lage ernst.« Aber
Eulabee glaubt nicht an eine Entfüh-
rung von Maria Fabiola, sie weiß, wie
13-, fast 14-jährige Mädchen ticken.
Und während sie auf eigene Faust
nach ihrer Freundin sucht, wird sie
Schritt für Schritt erwachsen.
Vida hat in ihre Geschichte Fragen
danach eingewoben, wie wichtig Lo-
yalität, Freundschaft, Rückhalt sind
und worin sie sich zeigen. Selbst das
Thema des Ausverkaufs San Francis-
cos an Leute mit zu viel Geld bringt
die Schriftstellerin in diesem hinrei-
ßenden Roman unter. Seine Lektüre
ist so erfrischend wie der Wind am
Strand von Sea Cliff.
Claudia Voigt n

Die Leichtigkeit des Lügens


LITERATURKRITIK Der erfrischende und clevere Roman »Die Gezeiten gehören
uns« erzählt vom Aufwachsen in San Francisco während der Achtzigerjahre.

Autorin Vida

Pazifikküste
in Sea Cliff

Vendela Vida: »Die Gezeiten gehören uns«.
Aus dem Englischen von Monika Baark. Han-
ser Berlin; 286 Seiten; 22 Euro.

Khrystyna Pochynok / Alamy / mauritius images

Lili Peper

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