Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
20 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.

TITEL UKRAINE-KRIEG

Marine bereits in Richtung Ostsee entsandt
hat. Eine Korvette und eine Fregatte sollen
ebenso ins deutsche Angebot, die beiden
Kriegsschiffe müssten allerdings aus laufenden
Missionen im Mittelmeer abgezogen werden.
Verglichen mit dem russischen Aufmarsch
im Osten der Ukraine ist das kümmerlich. Was
hierzulande bereits als Erfolg gilt, dürfte in Mos-
kaus Generalstab allenfalls müdes Lächeln her-
vorrufen. Das liegt daran, dass man in der Bun-
deswehr verlernt hat, auch nur mittelgroß zu
denken. Man musste es viele Jahre ja auch nicht.
Es war Generalleutnant Alfons Mais, der
die Lage am Donnerstag, kurz nach Beginn der
russischen Invasion, auf den Punkt brachte.
»Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden
nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu
müssen«, schrieb der Inspekteur des Heeres
im Netzwerk LinkedIn. »Und die Bundeswehr,
das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder
weniger blank da. Die Optionen, die wir der
Politik zur Unterstützung des Bündnisses an-
bieten können, sind extrem limitiert.«
Derart offen äußern sich Generäle meist
erst nach dem Ende ihrer Karriere. Und Mais
ging noch weiter: »Wir haben es alle kommen
sehen und waren nicht in der Lage, mit unse-
ren Argumenten durchzudringen, die Folge-
rungen aus der Krim-Annexion zu ziehen und
umzusetzen.«
Noch aufgebrachter klang seine frühere
Chefin. »Ich bin so wütend auf uns, weil wir
historisch versagt haben«, twitterte die ehe-
malige Verteidigungsministerin Annegret
Kramp-Karrenbauer (CDU). Man habe »nach
Georgien, Krim und Donbass« nichts vorbe-
reitet, »was Putin wirklich abgeschreckt hätte«.
Nach dem Ende des Kalten Kriegs waren
die Streitkräfte in fast allen westlichen Län-
dern drastisch geschrumpft. Noch 1989 hatte
die Bundeswehr über 5000 Kampfpanzer im
Bestand, heute sind es nicht einmal mehr 300.
Die Zahl der Soldatinnen und Soldaten sank
in der gleichen Zeit von fast 500 000 auf deut-

lich unter 200 000, die Wehrpflicht wurde
ausgesetzt und viel Geld gespart. Die heutige
Offiziersgeneration ist durch die Auslands-
einsätze auf dem Balkan, in Afghanistan und
in Mali geprägt, der große Landkrieg galt als
Szenario aus dem vorigen Jahrhundert.
Als Russland 2014 die Krim annektierte,
setzte das Umdenken ein, es begann mit einer
bestürzenden Erkenntnis: Offenbar hatte man
es mit dem Sparen etwas übertrieben, die
Bundeswehr war so ausgehungert, dass sie
nur noch aus Haut und Knochen bestand.
Diese Truppe schreckte niemanden mehr ab.
Seither hat sich einiges getan. Noch 2014
lag der Verteidigungshaushalt bei 32,4 Mil-
liarden Euro jährlich, mittlerweile ist er auf
rund 50 Milliarden gestiegen. Allerdings sind
das immer noch deutlich weniger als die zwei
Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung,
die perspektivisch mit den Nato-Verbündeten
vereinbart sind. Haushalts- und Verteidi-
gungspolitiker, die noch mehr Geld für die

Truppe herausholen wollten, bissen sich in
den vergangenen Jahren regelmäßig die Zäh-
ne am Finanzminister aus. Der hieß Olaf
Scholz, ist jetzt Kanzler und dürfte demnächst
erklären müssen, warum er an der Ausrüstung
der Truppe gespart hat.
Zudem krempelt man eine Großorganisa-
tion wie die Bundeswehr nicht in ein, zwei
Jahren um. Der Fortschritt kommt, wenn
überhaupt, im Tempo einer Wanderdüne,
deshalb trifft die Eskalation die Truppe in
einem heiklen Stadium: Sie ist noch nicht so
weit. Bis Anfang des kommenden Jahrzehnts
wollte man die Wende geschafft haben, nun
wird es sehr viel schneller gehen müssen. Die
aktuelle Krise wirke wie ein »mentaler Kata-
lysator«, sagt ein hoher Offizier.
In einem internen Papier des Heeres wird
aufgelistet, woran es nach wie vor mangelt.
Immer noch seien viele Kampfeinheiten nicht
voll ausgestattet, heißt es darin, die Einsatz-
bereitschaft der Waffensysteme sei trotz aller
Anstrengungen zu niedrig. Der Truppe fehle
es deshalb an der »Kaltstartfähigkeit«, um im
Ernstfall schnell größere Einheiten zu mobi-
lisieren. »Was wir zwei Jahre vorher geplant
haben, können wir leisten«, sagt ein hoher
Offizier, »alles andere wird schwierig.«
Schon die regulären Versprechen, die
Deutschland vor Putins Kriegszug gegen die
Ukraine gegeben hat, machen der Bundes-
wehr zu schaffen. Für dieses Jahr hat die Trup-
pe 13 700 Soldatinnen und Soldaten für die
»Nato Response Force« gemeldet, die schnel-
le Eingreiftruppe der Allianz. Mehrere Tau-
send von ihnen müssen seit Ende vergangener
Woche innerhalb einer Woche abmarschbe-
reit sein. Aber was, wenn die Nato noch mehr
verlangt, wenn die Militärführung neben der
Eingreiftruppe noch etwas mehr Abschre-
ckung für die Ostflanke will? Dann, so heißt
es bei der Bundeswehr, werde es schnell eng.
Dass die Truppe von Oberstleutnant An-
drä in Litauen kurzfristig mit 350 Soldaten
samt Panzerhaubitzen verstärkt werden
konnte, war ebenfalls keine spontane Aktion.
Schon vor Monaten hatten die Militärplaner
in Berlin gesehen, dass die Lage im Osten sich
zuspitzen könnte – und vorsorglich begonnen,
die Verstärkung zusammenzustellen. Vertei-
digungsministerin Lambrecht musste sie dann
nur noch in Marsch setzen.
Wie weit man mit dem Umbau ist, in wel-
chem Zustand sich die Truppe befindet, lässt
sich gerade nur ungefähr einschätzen. Die
offiziellen, von der Bundeswehr selbst ver-
öffentlichten Zahlen jedenfalls sind geschönt.
So meldete die Truppe im jüngsten »Bericht
zur materiellen Einsatzbereitschaft der
Hauptwaffensysteme« stolz eine Bereit-
schaftsquote von 77 Prozent. Doch das ist
bestenfalls die halbe Wahrheit.
In der vertraulichen internen Datenbank
der Bundeswehr wurde am Dienstag dieser
Woche ein Bestand von insgesamt 119 Stück
der »Panzerhaubitze 2000« aufgeführt. Genau
56 davon wurden als einsatzbereit deklariert,
also weniger als die Hälfte – dennoch wies die

Wieder hochgeschraubt


Deutschlands Verteidigungsausgaben*,
in Mrd. US-Dollar









   
* inflationsbereinigt
SQuelle: IW




Annexion der
Krim durch
Russland

Kanzler Scholz: Es geht nun um die »totale Isolation« Russlands

Markus Schreiber / dpa

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