Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 21

SPIEGEL: Herr Gabriel, Russland führt
einen Angriffskrieg in der Ukraine.
Wie groß ist die Gefahr für ganz Europa?
Gabriel: Ich bin entsetzt von Wladimir
Putins Entscheidungen. Er liefert den Be-
weis, dass es ihm nicht um Sicherheit sei-
nes Landes vor der Nato geht, sondern
darum, wieder eine Art »zaristisches«
Russland zu schaffen, das als Großmacht
über Europas Schicksal entscheidet.
SPIEGEL: Wie kann er gestoppt werden?
Gabriel: Das Einzige, was ihn daran hin-
dert, noch weiterzugehen, ist die Nato-
Mitgliedschaft der baltischen Staaten.
Deshalb wird die Nato jetzt das tun müs-
sen, was sie bisher mit Rücksicht auf das
russische Sicherheitsbedürfnis vermieden
hat: Sie wird auch in den osteuropäischen
Mitgliedstaaten mit einer Grenze zu Russ-
land Truppen und Waffensysteme statio-
nieren müssen. Deutsche Soldaten sollten
ebenfalls Teil einer solchen Nato-Mission
sein, wenn es von den osteuropäischen
Staaten gewünscht ist. Würden wir uns
verweigern, entstünde wieder der Ein-
druck deutscher Wankelmütigkeit – auch
in Russland. Das dürfen wir auf keinen
Fall zulassen. Wir sind zurück in der Zeit
der Abschreckung. Eine wirklich furcht-
erregende Realität.
SPIEGEL: Hätte Putin damit nicht erst
recht ein Argument, Krieg zu führen?
Nach dem Motto: Wir richten die Waffen
auf ihn, er dann doppelt so viele auf uns?
Gabriel: Es bleibt uns nichts anderes übrig.
Putin hält uns alle für Weichlinge. Aller-
dings will er den direkten Konflikt mit der
Nato ebenso vermeiden wie wir den mit
ihm. Stärke dürfen wir nicht nur militä-
risch zeigen. Wir müssen vor allem bei
den Sanktionen durchziehen. Das klingt
so simpel, aber es ist eine offene Frage,
wie lange wir das durchhalten.
SPIEGEL: Warum haben Sie daran Zweifel?
Gabriel: Es braucht jetzt historisch harte,
langfristige Sanktionen. Das Problem
ist, dass sie auch uns treffen, vor allem die
wirtschaftlich schwächeren Staaten in
Europa – nicht zuletzt Italien.
SPIEGEL: Also besser weiche Sanktionen?
Gabriel: Nein, natürlich nicht. Aber wir
müssen die Konsequenzen in Europa ab-
federn. Wir müssen bereit sein – ähnlich
wie in der Pandemie –, ein großes Hilfs-
paket aufzulegen, einen Recovery-Plan,
um den Absturz einiger europäischer Volks-
wirtschaften zu verhindern. Und auch in
Deutschland werden wir unsere Bürgerin-

nen und Bürger vor dramatisch höheren
Energiekosten schützen müssen, denn der
Stopp für Nord Stream 2 wird ja erst der
Anfang sein. Deutschland und Europa
werden sich unabhängiger von russischen
Energieimporten machen müssen. Das
wird teurer als russisches Pipelinegas.
SPIEGEL: Welche Härten kommen auf uns
zu in Deutschland?
Gabriel: Viele. Die Energiepreise werden
steigen, die Inflation wird sich verstärken,
Zinsen werden nach oben gehen. Es muss
klar sein: Wir kommen hier nicht mit busi-
ness as usual weiter. Politik muss jetzt
völlig neu formuliert werden. Putins Krieg
durchkreuzt praktisch alles, was wir uns
vorgenommen haben, die Klimaziele vor-
neweg. Deutschland, ganz Europa muss
sich jetzt unabhängig machen vom russi-
schen Gas. Das können wir schaffen. Aber
ohne die absehbar steigende Abgabenlast
für die Bevölkerung abzufedern, wird es
massive Akzeptanzprobleme geben.
SPIEGEL: Wir hätten uns schon früher un-
abhängig von Putins Gas machen können.
Welche Fehler sehen Sie rückblickend?
Gabriel: Wir haben vor 30 Jahren den ge-
samten Energiemarkt liberalisiert und die
Politik bewusst aus ihrer Verantwortung
für die Versorgungssicherheit entlassen.
Angebot und Nachfrage sollten am Markt
das alles besser und preiswerter regeln.
Das hat geklappt – mit großen Vorteilen
für Verbraucher und für Wirtschaft. Es
gab auch in der Energiepolitik eine Art

Friedensdividende, die wir lange Jahre ge-
nossen haben. Dem hat Russland jetzt ein
Ende gesetzt. Die Staaten in Europa wer-
den wieder mehr eingreifen. Das wird teu-
rer, ist aber nun leider unvermeidlich.
SPIEGEL: Muss der Wehretat steigen?
Gabriel: Die Erhöhung des Verteidigungs-
haushalts ist eher eine Frage der Fairness
gegenüber den USA, als dass wir damit
Russland einschüchtern. Europa und die
USA sind gleich große Volkswirtschaften,
deshalb kann man den Amerikanern
nicht zumuten, 70 Prozent unserer Vertei-
digungsausgaben zu finanzieren. Deutsch-
land sollte vor allem mehr tun für die
Verteidigungsfähigkeit der osteuropäischen
Nato-Mitgliedstaaten.
SPIEGEL: Sie selbst waren lange gegen
einen höheren Wehretat. Bereuen Sie das?
Gabriel: Ich habe sehr früh dafür plädiert,
nicht einfach 2 Prozent des Bruttoinlands-
produkts in die Bundeswehr zu investie-
ren, sondern 1,5 Prozent plus 0,5 Prozent
in die Verteidigungsfähigkeit Osteuropas.
Das war ein Vorschlag, den ich mit dem
früheren polnischen Botschafter in Deutsch-
land, Janusz Reiter, entwickelt habe, da-
mit Deutschland zeigt, dass es auch Ver-
antwortung für Osteuropa übernimmt.
Denn das tun bislang nur die USA. Mehr
Geld ist insbesondere bei der Bundes-
wehr kein Selbstzweck. Ich wäre schon
froh, wenn die Bundeswehr das Geld, das
sie bereits hat, vernünftig ausgeben wür-
de. Derzeit muss man befürchten, dass
zehn Milliarden Euro mehr gar nichts be-
wirken, weil alles in einem völlig ineffi-
zienten Apparat verschwindet. Bevor man
die Ausgaben erhöht, wäre eine dras-
tische Reform der Beschaffungsstrukturen
der Bundeswehr dringend nötig.
SPIEGEL: Altkanzler Schröder hat mehrere
Topjobs in Russland, gilt als Putins
Freund. Was erwarten Sie jetzt von ihm?
Gabriel: Ich bin nicht in der Position,
Gerhard Schröder öffentliche Ratschläge
zu erteilen. Das fände ich angesichts des-
sen, was er als Kanzler für Deutschland,
Europa und auch für die USA geleistet hat,
regelrecht unanständig. Dass er in seiner
Haltung zu Russland nicht für die SPD
spricht – wie ich übrigens auch nicht –, ist
offensichtlich. Und dass ich in der Russ-
landfrage völlig anderer Meinung bin als
er, ist auch keine Neuigkeit. Trotzdem
fühle ich mich ihm politisch und mensch-
lich verbunden.

VERTEIDIGUNG

»Putin hält uns alle für Weichlinge«


Sigmar Gabriel, 62, Vorsitzender der Atlantik-Brücke und ehemaliger Außenminister, fordert angesichts
des russischen Angriffskriegs eine sofortige Mobilisierung der Nato – inklusive deutscher Soldaten.

Ex-SPD-Chef Gabriel Interview: Veit Medick n

Sonja Och

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