Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
22 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

TITEL UKRAINE-KRIEG

Melanie Amann, Markus Becker, Matthias
Gebauer, Kevin Hagen, Konstantin von Hammer-
stein, Christoph Hickmann, Martin Knobbe, Veit
Medick, Ralf Neukirch, Fidelius Schmid, Christoph
Schult, Christian Teevs, Gerald Traufetter n

Datenbank eine Einsatzbereitschaft von 65,9
Prozent aus. Der Trick: Die 34 Haubitzen, die
gerade von der Industrie gewartet werden und
damit auch nicht eingesetzt werden können,
hatte man einfach nicht mitgerechnet.
Beim Schützenpanzer »Puma«, einem der
problematischsten Rüstungsprojekte der ver-
gangenen Jahre, wirken die Zahlen noch ab-
surder. Am Dienstag waren gerade mal 137
von 350 Fahrzeugen einsatzbereit – doch die
Truppe meldete intern eine Bereitschaftsquo-
te von 57,4 Prozent.
Gut möglich, dass die Planer angesichts sol-
cher Rechentricks selbst nicht genau wissen,
wie es um die Truppe bestellt ist. Dabei gibt
es auch Indizien, dass es langsam besser wird.
Als die Bundeswehr 2015 zum ersten Mal
den Kern der schnellen Nato-Speerspitze
stellte, mussten die Panzergrenadiere aus Ma-
rienberg noch eine Art groß angelegten Raub-
zug durch die Truppe veranstalten und sich
15 000 Ausrüstungsgegenstände bei anderen
Einheiten besorgen.
Wenn die Panzergrenadierbrigade 37 im
nächsten Jahr die Führung des Verbands über-
nimmt, bringt sie immerhin schon etwa 80
Prozent der Ausrüstung selbst mit. Das offi-
ziell ausgegebene Ziel allerdings, bis 2023
eine ganze Brigade vollständig auszurüsten,
wird die Bundeswehr im nächsten Jahr ver-
fehlen – obwohl es der Nato so zugesagt war.
Der Druck auf die Truppe wird nun zu-
nehmen – zugleich dürfte in der Politik freier
als bisher diskutiert werden, wie die Armee
ausgestattet sein muss. »Ich will keinen Krieg,
ich will keine Aufrüstung«, sagt die Juso-Vor-
sitzende Jessica Rosenthal. »Aber wir müssen
uns natürlich fragen, was man einem Auto-
kraten wie Putin, der zu allem bereit zu sein
scheint, entgegensetzen muss und was das für
die militärische Dimension bedeutet.«
Wenn eine Parteilinke wie Rosenthal von
der »militärischen Dimension« spricht, ist es
weit gekommen. Ihr Parteifreund Adis Ah-

metovic sagt: »Die Nato muss jetzt mobili-
sieren, was sie hat.« Sämtliche Grenzen müss-
ten gesichert werden, in Polen und in der
Slowakei, im Baltikum, aber auch auf dem
westlichen Balkan. »Dieses Einfallstor in Süd-
osteuropa hat niemand so richtig im Blick«,
sagt der Bundestagsabgeordnete Ahmetovic.
»Da hängen vielerorts schon Russlandfahnen,
ich war vor wenigen Wochen dort.« Natürlich,
sagt der Außenpolitiker, müsse man jetzt über
eine Erhöhung des Wehretats reden.
Ähnlich äußert sich der ehemalige SPD-
Vorsitzende und Außenminister Sigmar Ga-
briel, heute Chef der Atlantik-Brücke (siehe
Seite 21): Die Nato werde »auch in den ost-
europäischen Mitgliedstaaten mit einer Gren-
ze zu Russland Truppen und Waffensysteme
stationieren müssen«, sagt Gabriel.
In der FDP klingt das ähnlich. »In Putins
Welt bedeutet Entgegenkommen Schwäche«,
sagt Michael Link, europapolitischer Sprecher
der liberalen Bundestagsfraktion und Russ-
landkenner. Es müssten nun »alle Optionen
wirtschaftlicher und finanzieller Sanktionen
der EU und militärischer Abschreckung durch
die Nato« auf den Tisch.
Von einer »kopernikanischen Wende in
der deutschen Außenpolitik« spricht bereits
Piotr Buras, Deutschlandexperte des Think-
tanks European Council on Foreign Relations.
»Die Idee, dass immer engere Wirtschafts-
beziehungen und eine politische Zusammen-
arbeit in multilateralen Organisationen die
beste Sicherheitsgarantie seien, ist geschei-
tert«, sagt er. Deutschland müsse in Europa
jetzt seine Führungsrolle annehmen.
Wie könnte die aussehen? Auch Außen-
ministerin Annalena Baerbock (Grüne) wird
jetzt gefordert sein.
Das Einzige, was helfen könne, sei die »to-
tale Isolation« Russlands, so drückt es ein
deutscher Diplomat aus. Es werde Sanktionen
geben, Finanzströme müssten stillgelegt, Ver-
mögen eingefroren werden, gnadenlos und

möglichst ohne Ausreißer. Aber schon bei den
Sanktionen gab es unter den europäischen
Partnern bereits Diskussionen.
Will die EU die russische Wirtschaft massiv
treffen, muss sie Öl und Gas ins Visier neh-
men, doch manche EU-Länder sind noch stär-
ker von den russischen Lieferungen abhängig
als Deutschland. Italien etwa nimmt Russland
fast ein Viertel seiner Flüssiggasexporte ab.
Am Donnerstag zog Deutschland den Ärger
vieler EU-Partner auf sich, als es sich dagegen
aussprach, Russland vom internationalen Ban-
kensystem Swift auszuschließen.
Auch weil sie um derartige Schwierigkeiten
wissen, richten deutsche Diplomaten ihren
Blick nun auf China. Das Riesenreich ist bis-
lang ein treuer Verbündeter Russlands. Stra-
tegisch, so schätzen es Diplomaten ein, be-
werte man die Eskalation dort positiv, schließ-
lich müsse Moskau sich nun wirtschaftlich
ganz nach Osten ausrichten. Doch wer will
schon gern in die Nähe eines Kriegstreibers
gerückt werden? China, so die Hoffnung in
Berlin, könnte daher eine wichtige Vermittler-
rolle einnehmen – und die Deutschen wären
wegen ihrer guten Kontakte dorthin wieder
im Spiel. Am Donnerstag allerdings stellte
sich Peking an die Seite Moskaus. Es könnte
die nächste Hoffnung sein, die sich zerschlägt.
Welche Optionen bleiben sonst? Man wer-
de nun »robust« gegenüber Russland auftre-
ten, heißt es aus der Bundesregierung, das
gelte speziell für die künftige Ausstattung der
Bundeswehr. Und Wirtschaftsminister Habeck
will Deutschlands Abhängigkeit vom russi-
schen Erdgas möglichst schnell reduzieren.
Dafür plant er radikale Schritte. Unter an-
derem, so seine Idee, könne man den Ausbau
der erneuerbaren Energien mit einer nationalen
Notlage begründen und damit deutlich be-
schleunigen. Windkraftanlagen würden dann
nicht mehr bis zu sieben Jahre von der Planung
bis zur Fertigstellung brauchen. Auch die Ver-
sorgung mit Flüssiggas will das Wirtschaftsmi-
nisterium deutlich aufstocken, unter anderem
mit neuen Terminals. Eines soll schwimmend
geplant werden und möglichst bald fertig sein.
Deutschland wird sich auf die neue Zeit ein-
stellen müssen, flexibler werden, wehrhafter,
und es muss sich von Illusionen verabschieden,
die viele sich über Wladimir Putin gemacht
haben. Selbst in der Linkspartei hat man das
begriffen, die Spitzen von Partei und Fraktion
verurteilten die Invasion am Donnerstag scharf
und eindeutig. Doch ausgerechnet in der Kanz-
lerpartei haben manche noch immer nicht ver-
standen, was da gerade passiert.
»Militärisch lassen sich Probleme nicht lö-
sen«, schrieb der SPD-Linke Ralf Stegner am
Morgen des Angriffs auf Twitter. Es dürfe keine
»neue Eiszeit mit Krieg + Wettrüsten« geben.
Kurz danach meldete die ukrainische Re-
gierung die ersten 40 Toten.

Pro-Ukraine-Demonstranten in Berlin: Was hilft noch reden, wenn die Panzer rasseln?

HC Plambeck / DER SPIEGEL

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