Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 23

ANALYSE

Abschied von einer Illusion


Deutschland hat viele recht glückliche Jahre hinter sich, nur wurde die
große Gefahr übersehen – wie konnte es dazu kommen?

Es kommt nicht so häufig vor, dass man
live zusehen kann, wie eine außenpoliti-
sche Doktrin in Trümmer fällt. In der
Nacht auf Donnerstag war es so weit. Wla-
dimir Putin hat eine umfassende militäri-
sche Invasion der Ukraine begonnen, Russ-
lands Armee beschießt das Nachbarland, es
ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass in
Europa auf diese Weise ein Krieg begonnen
wird: Es ist nackte militärische Aggression.
Damit ist auch die deutsche Russland-
politik der vergangenen Jahrzehnte am
Ende. Sie ist in sich zusammengesunken
wie eine Sandburg, über die ein paar Wel-
len hinweggegangen sind. Jahrzehntelang
glaubte man in Deutschland, dass Sicher-
heit und Frieden in Europa nur in Koope-
ration mit Russland zu haben sind – nicht
in Konfrontation. Wenn man nur lange
genug spreche, gut genug zuhöre, sich in
den anderen hi neinversetze, seine Inter-
essen berücksichtige, ihn nicht provoziere,
dann funktioniere das schon. Das war
eine der Grundannahmen deutscher
Außenpolitik.
Damit ist es nun vorbei. Schon Putins
Rede am Dienstag legte offen, dass mit
ihm keine Verständigung zu haben ist.
Und die Bundesrepublik steht zu Beginn
des Kriegs, den der russische Präsident
losgebrochen hat, ziemlich hilflos da.
Es ist ja nicht nur so, dass man in den
vergangenen Wochen die osteuropäischen
Partner verstört hat mit dem langen Zö-
gern, entschieden zu handeln mit einem
Verzicht auf die Pipeline Nord Stream 2
oder dem Liefern von Waffen an die Ukrai-
ne. Die deutsche Außenpolitik hat insge-
samt keinen Plan mehr. Das, woran man
jahrelang (und zuletzt ziemlich verzweifelt)
geglaubt hat, hat sich als falsch erwiesen.
Wie konnte es dazu kommen?
Es gab gute Gründe für die deutsche
Russlandpolitik. Sie war ein Generationen-
projekt der Kinder jener Männer, die die
Sowjetunion einst angegriffen und mit
einem Vernichtungskrieg überzogen hat-
ten. Sie war auch von der Dankbarkeit der
Nachwendejahre getragen, weil die Sow-
jets den Deutschen trotz ihrer Verbrechen
die Wiedervereinigung erlaubt hatten.
Und natürlich war sie nicht nur von hehren
Motiven getragen – sie ruht auf wirtschaft-
lichen Interessen, gerade hat der Ostaus-
schuss der deutschen Wirtschaft verkündet,
dass der Handel mit Russland 2021 ein All-
zeithoch erreicht hat: Der Gesamtumsatz
übertraf 500 Milliarden Euro.

Gleichzeitig war immer Verlogenheit im
Spiel. Die Verständigung der vergangenen
30 Jahre wies Russland allein die alte Rolle
der Großmacht Sowjetunion zu. Dabei
wurden die Verbrechen der Wehrmacht
einst auf einem breiten Landstreifen be-
gangen, der sich vom Baltikum und von
Russland über Polen, das heutige Belarus
und die Ukraine zieht; in der Ukraine ha-
ben die Deutschen sogar besonders gewü-
tet. Jene Männer, die auf dem berühmten
Foto vom Mai 1945 die rote Fahne über
dem zerstörten Reichstag schwenken, ka-
men aus allen Teilen der Sowjetunion, die
Rote Armee war multinational. Das Ge-
fühl, in tiefer Schuld zu stehen, bezog sich
jedoch nur auf Russland. Nicht auf die an-
deren Staaten. Die Ukraine? Egal. Belarus?
Egal. Die baltischen Staaten? Egal.
Die Selbstverständlichkeit, mit der die
deutsche Politik lange über die Sorgen und
auch über die jüngere Geschichte dieser
Länder hinweggegangen ist und sie zuguns-
ten des deutsch-russischen Verhältnisses
ignoriert hat, dürfte einer der Hauptgründe
für die Fehleinschätzung Russlands durch
die deutsche Politik sein. Und natürlich ist
russisches Kapital nach Deutschland geflos-
sen. Geld, mit dem Häuser, Unternehmen,
der Anteil an Schalke 04 und ein Ex-Kanzler
mitsamt seinem Netzwerk gekauft wurden.
Wer das Versagen der deutschen Russ-
landpolitik verstehen will, muss auch über
deutsche Talkshows sprechen. Es mangelt
in Deutschland nicht an Osteuropa-Exper-
tinnen und -Experten. Sie kommen nur

nicht häufig genug zu Wort. Stattdessen
wird in diesen Runden seit Jahren den ewig
gleichen Figuren Platz eingeräumt, die die
ewig gleichen Geschichten von der russi-
schen Seele erzählen, der deutschen
Schuld und einer historischen Verantwor-
tung, die sich nur auf Russland bezieht.
Dann geht es auch oft gleich um das Recht
Russlands auf eine Einflusssphäre. Als
wäre eine ausgewogene Darstellung darauf
angewiesen, dass auch jemand die Fakten
verdreht. »False bias« nennt das die Me-
dienwissenschaft, falsche Ausgewogenheit.
Sie spielt der russischen Propaganda in
die Hände, deren Macht auf der Einebnung
von Wahrheit und Lüge basiert. Noch am
Dienstag, einen Tag nachdem der russische
Präsident behauptet hatte, die Ukraine sei
kein richtiger Staat, sondern nur ein »Terri-
torium«, saß Gabriele Krone-Schmalz bei
»Markus Lanz« und begründete diese Sicht.
Krone-Schmalz, die vor 30 Jahren einmal
vier Jahre lang Moskau-Korrespondentin
war und darauf ihre Karriere als Chef-Russ-
landversteherin aufgebaut hat, wiederholt
in solchen Sendungen zuverlässig die Pro-
paganda der russischen Staatsmedien.

Die Bundesrepublik hat 30 ziemlich glück-
liche Jahre hinter sich. Eine Ära des wach-
senden Wohlstands und der Stabilität. We-
nige Länder haben so sehr von der europäi-
schen Integration und der Globalisierung
profitiert wie Deutschland. Von der Vernet-
zung, die überall auf der Welt neue Märkte
eröffnete, und von einer Weltordnung, die
auf wundersame Weise wirtschaftliche Dy-
namik und politische Stabilität zu verbin-
den schien. Es lief so gut, dass viele sich
einredeten, so werde es immer bleiben,
und viele sich nicht einmal mehr vorstellen
konnten, dass diese Welt trotzdem noch
immer auf Interessen und Macht ruht.
Doch diese Ära geht zu Ende. Russland
ist jetzt eine offen revisionistische Macht,
die einen Teil ihres früheren Einfluss-
bereichs ultimativ zurückfordert – der sich
auf Staaten im Osten Europas erstreckt,
die nun demokratische EU-Mitglieder sind.
Russland fordert Europa militärisch heraus,
aber auch zwischen China und dem Wes-
ten gibt es größere Konflikte. Kurzfristig
wird es darum gehen, die russischen Ag-
gression zurückzuweisen. Aber mittel- und
langfristig müssen die Deutschen mehr da-
rüber nachdenken, wie unsere nationalen
Interessen aussehen und wie sie zu sichern
sind. Die neue Außenministerin Annalena
Baerbock hat angekündigt, die deutsche
Außenpolitik ökologisch und feministisch
auszurichten. Das kann eine Chance sein.
Aber es wäre gut, wenn die Bundesrepub-
lik nicht von einer Illusion in die nächste
stolpern – und wenn die deutsche Außen-
politik auch endlich realistisch würde.
Gesprächspartner Putin, Merkel 2015 Tobias Rapp n

Alexander Zemlianichenko / AP / dpa

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