Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

40 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

D


raußen vierstellige Inzidenz und leere
Straßen, drinnen spielt Abba »Money,
Money, Money«, denn darum geht es
ja immer. Es ist ein Freitagabend im Estrel-
Hotel in Berlin-Neukölln, etwa 200 Leute
haben es an der 2G-plus-Kontrolle vorbei in
den Saal geschafft, auf der Bühne tanzen und
singen gekonnt vier fröhliche falsche Schwe-
den, teils mit Perücken. Das Estrel ist für sei-
ne Double-Shows bekannt, Elvis, Tina Turner,
die Beatles, Michael Jackson. Das Publikum,
eher grauhaarig, ist begeistert, und bei »Dan-
cing Queen« tanzt es sogar ein bisschen. So
sieht Berliner Nachtleben aus in Zeiten von
Corona.
Die riesige Lobby nebenan aber liegt öd
und verlassen. Ein einziger Kunde steht an
der Bar, vielleicht mit Schlafproblemen. Das
Estrel, ein Gigant von Gasthaus, hat derzeit
nur zehn Prozent seiner 1125 Zimmer belegt.
Der Komplex aus Bettenburg, riesigen Kon-
gresssälen und Veranstaltungsräumen ver-
sammelt einige Superlative auf sich. Größtes
Hotel Deutschlands, zweitgrößtes Kongress-
hotel Europas, umsatzstärkstes Hotel des
Landes. Also: ein großes Ding. Und jetzt, in
der Pandemie, während der leere Kasten Mil-
lionen vernichtet, entsteht direkt daneben der
nächste Rekord: Der Estrel Tower, der mit 176
Metern und 45 Etagen das höchste Hotel
Deutschlands werden wird und das zweit-
höchste Gebäude Berlins, nach dem Fernseh-
turm.
»Wir haben einfach gesagt, wir machen es
trotzdem«, sagt gut gelaunt Ekkehard Stre-
letzki, 81-jährig, Gründer, Eigentümer und
Namensgeber des Estrel, einem Mischkurz-
wort, das er höchstselbst aus seinem Vor- und
Nachnamen gebastelt hat. Er hätte das Haus
also auch »Strelhard« oder »Ekletzki« nennen
können.
Streletzki, elegant gekleidet wie immer,
sitzt an einem Januarnachmittag in einem
Separee des hauseigenen Italieners vor einem
Teller Caprese und wischt die ganze Krise mit
seiner Serviette weg. »Das wird schon wie-
der«, sagt er, mit rheinländischer Sprech-
melodie, die dem Mann aus Hamm an der
Sieg auch Jahrzehnte in Berlin nicht haben
austreiben können. Dann richtet er sich an
seinen Sohn Maxim, der ebenfalls am Tisch
sitzt. »Auch wenn du ein bisschen gezweifelt
hast, ob wir weitermachen wollen, nicht

wahr?« Maxim, blond und 31 Jahre jung,
mit Hoodie und Turnschuhen, ist Projektlei-
ter des Wolkenkratzers, die Streletzkis sind
ein Familienunternehmen. »Aber nur ganz
kurz, Papa«, sagt der Spross aus zweiter
Ehe. Und dass der Vater halt ein »totaler
Optimist« sei.
Sonst hätte er das Estrel ja auch nicht ge-
baut, damals, nach der Wende. Die Voraus-
setzungen waren – suboptimal. Erstens hatte
Streletzki keine Ahnung vom Hotelgeschäft,
er ist von Haus aus Bauingenieur und Statiker.
Zweitens hatte er sich den Schmuddelbezirk
Neukölln als Standort ausgesucht, weit weg
vom Zentrum der neuen Hauptstadt. Drittens
lag nebenan ein Schrottplatz und ein rostiger
Industrieschifffahrtsskanal.
Wie kam er bloß auf die Idee? Der Legen-
de nach, die er selbst erzählt, hat Streletzki,
der von den Achtzigerjahren an regelmäßig

geschäftlich in Berlin weilte, sich nach dem
Mauerfall geärgert, dass die örtlichen Hote-
liers ihre Zimmerpreise auf 400 oder 500
Mark vervielfachten, der explodierenden
Nachfrage wegen. Er dachte, ein Großhotel
mit Zimmern für rund 100 Mark, das müss-
te doch funktionieren, egal wo es steht. Vier
Sterne zum Zwei-Sterne-Preis, das war sein
Motto.
»Sind Sie sicher, dass Sie dort bauen wol-
len?«, habe ihn der zuständige Neuköllner
Baustadtrat noch skeptisch gefragt. Streletzki
war sich sicher, die Sache wurde genehmigt.
Seither steht es da, Eröffnung 1994. Schön
ist es nicht, aber unübersehbar. Das 17-stö-
ckige Haupthaus ähnelt mit seiner spitz zu-
laufenden Nase einem riesigen Bügeleisen.
Oder einer Maus, wie ein Kind sie kritzelt.
Die ersten Entwürfe stammten von Stre letzki
persönlich. Dieses Hausgemachte, dieses Ich-
mach-das-mal-lieber-selbst-Ideal, das scheint
typisch für ihn.
Auch das neue Hochhaus, geschätzte Bau-
kosten 260 Millionen Euro, hat der Patron
zunächst eigenhändig gezeichnet. Hinter sei-
ner Firma stehen keine Kette, kein Invest-
mentfonds und keine stillen Gesellschafter,
sie ist Privatbesitz. »Ein Familienunterneh-
men dieser Art ist in der Branche einmalig«,
sagt Stefanie Salwender von der Münchner
Hotelberatungsfirma Treugast.
Bei einem Rundgang, von Vater und Sohn
angeführt, werden die nordkoreanischen Aus-
maße der Anlage fassbar. Vor den großen
Fensterfronten liegen Wasserspiele, Rolltrep-
pen überwinden die verschiedenen Ebenen,
draußen ist ein hoteleigener Bootsanleger.
Überall steht oder hängt teure, großformati-
ge, zeitgenössische Kunst herum, Jonathan
Meese, Tony Cragg, Jörg Immendorff – was
Streletzkis Frau Sigrid alles so gesammelt hat.
Mittendrin, Familiensache, finden sich auch
ein paar Gemälde der Hobbymalerin Kira
Streletzki, der 30-jährigen Tochter, die beim
Galeristen Hauser & Wirth in London arbei-
tet. Ein Sohn aus erster Ehe wiederum, Julian,
51, kümmert sich um die Wohn- und Gewer-
beimmobilien der Streletzki-Gruppe.
35 000 Quadratmeter Veranstaltungsflä-
che können im Estrel bespielt werden, knapp
fünf Fußballfelder. »Hier hatten wir schon
›Wetten, dass ..?‹ drin, Boxkämpfe, Bambi-
Verleihungen, allerlei Parteitage«, sagt Stre-
letzki, dessen Stimme in der leeren Conven-
tion Hall verhallt, »und Carreras hat hier auch
gesungen.«
1800 Tagungen und Kongresse beherbergt
das Haus in normalen Jahren, mit rund
450 000 Besuchern. Jetzt: tote Hose. Vor der
Pandemie, also 2019, lag der Jahresumsatz
bei mehr als 80 Millionen Euro. Und 2020,
2021? Streletzki verzieht nur das Gesicht und
ruft: »Katastrophe!« Die Angestellten sind in
Kurzarbeit, 400 sind es noch, 120 haben ge-
kündigt. Allerdings wolle er nicht klagen, sagt
er, die Überbrückungshilfen seien anständig.
Die Hilfen lindern die gröbsten Verluste, den
Rest schießt er privat ein. Man muss kein Mit-

Der Turmbauer


BERLIN Einst schuf er Wohntürme in Teheran, dann setzte er das größte
Hotel Deutschlands nach Neukölln, jetzt zieht er dort mitten
in der Krise einen Wolkenkratzer hoch. Wer ist Ekkehard Streletzki?

»Die Leute wollen wieder
raus, sie wollen
sich wieder begegnen.«
Ekkehard Streletzki

Götz Schleser / DER SPIEGEL

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