Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

42 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

D


as Schreiben aus dem Dezember 2021
war ein Notruf. Unterzeichnet vom Ge-
schäftsführer des Klinikums Tuttlingen
und des Sozialdezernenten des Landkreises
im Süden Baden-Württembergs. »Wir wenden
uns mit einem dringenden Appell an Sie«,
schrieben sie. Ihr Krankenhaus sei ausgelastet.
Sie forderten die Verantwortlichen der
stationären Einrichtungen und ambulanten
Dienste auf, »Krankenhauseinweisungen in
dieser schwierigen Zeit besonders sorgfältig
zu bedenken«. Diese sollten eine Auswahl
treffen: Die knappen Intensivressourcen soll-
ten diejenigen bekommen, die auch »davon
profitieren können«. Heißt: jene Menschen,
bei denen eine »Lebensverlängerung bei
guter Lebensqualität« zu erwarten sei. Im
Anhang fanden die Empfänger den Vordruck
einer Patientenverfügung für den Fall einer
Coronavirusinfektion.
Der Landrat versuchte wenig später ein-
zuordnen, abzuschwächen, klarzustellen.
Doch die Nachricht war in der Welt. Zeitun-
gen und Fernsehsender berichteten über das
Tuttlinger Schreiben. In den Beiträgen stand
immer wieder ein Wort: Triage.
Es wird in der Notfallmedizin genutzt und
ist abgeleitet aus dem Französischen, vom
Begriff »Auswählen«: Ärzte müssen entschei-
den, wer bei knappen Ressourcen zuerst be-
handelt oder gerettet werden soll.
Im Dezember 2021 erlebte Deutschland
die bislang schlimmste Phase der Coronakrise.
Wie zuvor in Italien, Portugal, New York oder
Spanien drohte auch hierzulande eine Über-
lastung des Gesundheitssystems.
Die vierte Welle hatte das Land im Griff.
Die Virusvariante Delta war ansteckender als
vorherige Mutanten, sie führte bei Ungeimpf-
ten häufiger zu schweren Erkrankungen als
frühere Varianten. Dazu waren die Patienten
in den Kliniken im Schnitt jünger als bei vor-
herigen Wellen, sie blieben länger auf den
Intensivstationen. Von Oktober 2021 an stieg
die Zahl der Patienten stark. Mit jeder Woche
nahmen die Warnungen von Medizinern und
Politikern zu.
Manche Ärztinnen und Ärzte fürchteten,
nicht mehr allen Erkrankten helfen zu können.
Weil die Stationen in den Kliniken vollzu-
laufen drohten, weil das Pflegepersonal am
Limit arbeitete, weil es an Pflegern für die
Intensivbetten mangelte.
Der Vorsitzende des Weltärztebundes,
Frank Ulrich Montgomery, sagte Anfang De-
zember: »Wir sind kurz vor dem Kippen. Wir
bereiten uns auf die Triage vor.« Die Vereini-
gung der Intensiv- und Notfallmediziner Divi
warnte angesichts von mehr als 2300 Neu-
aufnahmen von Intensivpatienten innerhalb
einer Woche, die Lage sei »noch nie so be-
drohlich und ernst wie heute« gewesen. Sie
rechneten mit »mehr als 6000 Patienten mit
Covid-19 auf den Intensivstationen« – der
bisherige Höchstwert aus dem Januar 2021
werde »mit Sicherheit deutlich überschritten«.
Die damals amtierende Kanzlerin Angela
Merkel sprach von einer Coronalage, »die

Rettung durch den


Kleeblatt-Trick


PROGNOSEN In der vierten Coronawelle im Dezember warnten Politiker,
Mediziner und Wissenschaftler vor dem Kollaps des Gesundheitssystems.
Kliniken bereiteten sich auf die Triage vor. Dann war davon nie wieder die
Rede. Warum nicht?

Verlegung eines Covid-Patienten in Dresden im Dezember: »Da war richtig Druck im Kessel«

Ronald Bonss / DER SPIEGEL

2022-09SPAllDeutschland613152209_Triage30D2-042042 422022-09SPAllDeutschland613152209_Triage30D2-042042 42 24.02.2022 21:55:1724.02.2022 21:55:17

Free download pdf