Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 43

alles übertreffen wird, was wir bisher
hatten«.
Erstmals flog die Luftwaffe Covid-
19-Patienten in andere Bundesländer.
Es gab TV-Sondersendungen, auch
der SPIEGEL ging in einer Titelge-
schichte Anfang Dezember der Frage
nach, wie dramatisch die Lage wer-
den könnte.
Der Ton jener Tage war ein Stak-
kato der Hilferufe. Knapp drei Mo-
nate sind seitdem vergangen. Die
dramatischsten Prognosen traten
nicht ein, allem Anschein nach. Auch
weil zum Jahreswechsel die weniger
krankmachende Omikron-Variante
Delta immer schneller verdrängte.
Das Meinungsforschungsinstitut
Allensbach befragt seit dem Ausbruch
der Pandemie regelmäßig Menschen
in Deutschland. Eine Frage der De-
moskopen lautet: »Vermitteln die
Medien bei der Berichterstattung
über Corona ein wirklichkeitsgetreues
Bild der Lage, oder ist das eher Panik-
mache?« Am Anfang der Krise, im
Jahr 2020, empfanden noch 47 Pro-
zent der Befragten das Bild als realis-
tisch. Nur 23 Prozent widersprachen.
Zwei Jahre später hat sich der Ein-
druck gewandelt – 46 Prozent emp-
finden inzwischen viele Artikel und
Sendungen als Panikmache.
Während Politiker, Medizinerin-
nen und Virologen Anfang Dezember
von ihren Sorgen berichteten, war die
Sieben-Tage-Inzidenz auf dem Höhe-
punkt. Vom 1. Dezember an ging die-
se zurück, nach dem 10. Dezember
sank auch die bundesweite Zahl der
Covid-Intensivpatienten.
War es also Panikmache?
Je häufiger vor einer Katastrophe
gewarnt wird, die nicht eintritt, um so
eher tun viele Bürgerinnen und Bür-
ger die Warnungen ab. Sie halten den
Alarm für übertrieben. Wird es wirk-
lich ernst, kann das fatale Folgen ha-
ben. Es lohnt sich deshalb zurückzu-
blicken. Nicht um abzurechnen, aber
um mögliche Erklärungen zu bekom-
men. Denn die Pandemie ist nicht
vorbei.
Der SPIEGEL hat erneut mit Wis-
senschaftlern und Praktikern gespro-
chen, die Ende November und An-
fang Dezember 2021 die Lage ein-
ordneten. Zwei Aspekte nannten die
Experten besonders häufig: Die dras-
tischen Warnungen hätten geholfen,
das Schlimmste zu vermeiden. Und
dass den wenigsten Menschen klar sei,
wie dramatisch die Zustände in den
Krankenhäusern tatsächlich waren.
Thorsten Lehr ist es inzwischen
gewohnt, sich zu rechtfertigen. Lehr
ist Modellierer an der Universität des
Saarlandes. Im März 2020 entwickelte

er mit seinem Team den »Covid-Si-
mulator«, ein mathematisches Mo-
dell, das berechnet, wie sich das In-
fektionsgeschehen entwickelt. Als er
im Dezember 2021 mit dem SPIEGEL
sprach, vermied er konkrete Progno-
sen für die folgenden Wochen.
Heute sagt er, er sei im Laufe der
Pandemie vorsichtiger geworden. Am
Anfang habe er bei Mediengesprächen
noch Grafiken gezeigt, die simulierten,
wie sich die Inzidenzen entwickeln
könnten. »Es gibt immer noch ein
Missverständnis«, sagt Lehr. »Wir sa-
gen nicht die Zukunft voraus, sondern
entwickeln Modelle unter der Annah-
me, dass sich nichts verändert.« Das
werde aber so kaum eintreffen, da
Menschen ihr Verhalten anpassen.
Seine Prognosen aus dem Dezem-
ber habe er nicht zurückzunehmen.
»Es war eine extreme Situation, und
es war knapp.« Im Süden und Osten
des Landes waren Kliniken am Limit.
»Der alleinige Blick auf die Zahlen für
ganz Deutschland verzerrte die Wahr-
nehmung«, sagt Lehr. Deutschland sei
an einem kritischen Punkt gewesen.
In Rostock wurde schon Ende No-
vember konkret gewarnt: Noch »ein
bis zwei Wochen«, hatte der Infek-
tiologe Emil Reisinger gesagt, dann
könnte es auch in Mecklenburg-Vor-
pommern zur Triage kommen. Rei-
singer, wissenschaftlicher Vorstand
der Uniklinik Rostock, hatte deshalb
einen Covid-Ethikbeirat einberufen,
der die Ärztinnen und Ärzte bei der
schwierigen Entscheidung unterstüt-
zen sollte, wer noch ein Bett be-
kommt und wer nicht. Dass es dazu
nicht kam, erklärt Reisinger heute vor
allem mit den damals verschärften
Beschränkungen für Ungeimpfte und
der »extrem großen Einsatzbereit-
schaft der Mitarbeiter:innen«. Bereits
Mitte Dezember sei die Belegung auf
den Intensivstationen zurückgegan-
gen. Geholfen habe auch, dass plan-
bare Eingriffe verschoben wurden,
der Preis dafür sei für etliche Patien-

ten wie Krebskranke eine schlechtere
Prognose.
Auch Frank Ulrich Montgomery
sieht sich nicht als Panikmacher. Die
Warnungen hätten verhindert, dass
die schlimmsten Erwartungen einge-
troffen seien. Montgomery spricht
davon, dass mit Prävention kein
Blumentopf zu gewinnen sei: Wenn
Prävention funktioniere und der
schlimmste zu erwartende Fall nicht
eintritt, dann werde infrage gestellt,
»ob das jetzt alles nötig« gewesen sei.
Wie wenig gefehlt hat, lässt sich
noch heute auf der Website des Univer-
sitätsklinikums Augsburg nachlesen.
Bei 40 Corona-Intensivpatienten hätte
das Klinikum einen »Triage-Voralarm«
auslösen müssen. Dieser hätte der Poli-
tik 36 Stunden Zeit gegeben zu reagie-
ren. Irgendetwas in anderthalb Tagen
zu unternehmen, damit Ärzte nicht
entscheiden müssen, wer eine lebens-
rettende Behandlung bekommt und
wer nicht. 40 war die Grenze.
Ende November lag die Zahl –
trotz Verlegungen in andere Klini-
ken – bei 34. Anfang Dezember bei 36.
Laut Markus Wehler war die Situ-
ation Anfang Dezember im Univer-
sitätsklinikum Augsburg »kurz vor
knapp«. Es sei damals richtig gewesen,
sich auf eine Triage vorzubereiten und
das Thema »sehr, sehr ernst zu neh-
men«. Niemand habe absehen können,
dass kurz darauf die Patientenzahlen
sinken würden. Tagelang pendelte die
Zahl der Intensivpatienten um 35.
Wehler ist Leiter der Notaufnahme.
Die Uniklinik ist zuständig für die
gesamte Region Schwaben mit zwei
Millionen Menschen. 1700 Betten
stellt das Klinikum in normalen Zei-
ten. Um die damals große Zahl der
Coronapatienten auf den Intensiv-
und Normalstationen adäquat behan-
deln zu können, wurden rund 400
Betten und diverse Operationssäle
abgemeldet. Das frei gewordene Per-
sonal setzte die Klinik zur Versorgung
der Coronapatienten ein.
Für andere Erkrankte fuhr die Kli-
nik wochenlang ein Notfallprogramm.
Behandlungen wurden verschoben,
OPs abgesagt. Er sagt: »Die Triage
war ein absolut realistisches Szenario
und kein Alarmismus – wir standen
mit dem Rücken an der Wand.«
Wann beginnt die Triage? Diese
Frage stellt Michael Bauer, er leitet
die Klinik für Intensivmedizin am
Uniklinikum Jena. Experten kennen
Abstufungen, eine sogenannte »laten-
te Triage«, manchmal sprechen sie
auch von einer »weichen« oder »stil-
len« Triage. Und die habe es, laut
Bauer, natürlich gegeben. Etwa wenn
ein Krankenwagen nicht die nächst-

SPIEGEL-Titel vom


  1. Dezember 2021


Notfallmediziner
Wehler von der
Uniklinik Augsburg:
»Triage war ein
realistisches Szenario
und kein Alarmismus«

Die Überlas-
tung beginnt
nicht bei
100 Prozent,
sondern
viel früher.

Peter Schinzler / DER SPIEGEL

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