Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

44 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

gelegene Klinik anfahren kann, da sie schon
ausgelastet ist. Solche Entscheidungen könn-
ten ein »Todesurteil« sein, sagt der Mediziner.
In Jena gibt es zwölf Plätze mit einer künst-
lichen Lunge, der sogenannten Ecmo. Da
werde ausgewählt, wer behandelt wird und
wer nicht. Mit der Ethikkommission und der
Rechtsabteilung der Klinik sei ein klares Vor-
gehen besprochen worden, so der Intensiv-
mediziner über die Zeit im Dezember. Be-
handelt wurde, wer in der Klinik war. Patien-
ten von außen konnten abgelehnt werden,
alles rechtssicher, unter Hinweis auf die Über-
lastung. In der Regel schicken die kleinen
Krankenhäuser ihre besonders kranken Pa-
tienten in Großkliniken. Zu Spitzenzeiten
konnten diese Kranken nicht mehr aufgenom-
men werden. Manche starben wenig später.
Niemand könne sagen, wie sich die Fälle
in normalen Zeiten entwickelt hätten, sagt
Bauer.
Seine Antwort ist also, dass es eine Triage
gab. Nur eine, die eine konkrete Situation
vermied: zwei Schwerkranke und nur ein ver-
fügbares Bett.
Oft gebe es Missverständnisse, was die
Auslastung der Intensivstationen betreffe, sagt
Bauer. Er koordiniert die Verteilung der In-
tensivpatienten für Thüringen. Die Überlas-
tung beginne nicht bei 100 Prozent Covid-
Patienten, sondern viel früher. »Wir können
uns den Laden nicht voll legen«, sagt Bauer.
Sobald in den sogenannten Schwerpunkt-
krankenhäusern 20 Prozent Covid-Patienten
auf der Intensivstation liegen, werden diese
innerhalb des Freistaats verlegt. Steigt die
Quote auf 25 bis 35 Prozent, werden sie im

ganzen Bundesgebiet verteilt. »In den Hot-
spots war die Sättigungsgrenze erreicht«, ver-
sichert Bauer. Teilweise lag die Quote bei
40 Prozent. Letztendlich hätte ein System das
Schlimmste verhindert, das vorher noch nie
zum Einsatz kam: das sogenannte Kleeblatt-
konzept.
Entstanden ist es im Frühjahr 2020, zu Be-
ginn der Coronapandemie. Die Bundesländer
wurden in Regionen eingeteilt, die sogenann-
ten Kleeblätter. Um zu verhindern, dass Kran-
kenhäuser überlastet sind, können Covid-
Intensivpatienten innerhalb eines Kleeblatts
verlegt werden. Sollten die Kapazitäten auch
da ausgeschöpft sein, werden Patienten bun-
desweit verlegt.
Jan-Thorsten Gräsner leitet das Institut für
Rettungs- und Notfallmedizin der Uniklinik
Schleswig-Holsteins. Knapp zwei Jahre lang
hatte er zusammen mit anderen Fachleuten
das System entwickelt. »Es ist genau das ein-
getreten, wofür wir das Ganze geplant ha-
ben«, sagt Gräsner heute.
Anfang Dezember schlief er nur vier bis
fünf Stunden pro Nacht. Fast rund um die
Uhr halfen er und sein Team bei der Organi-
sation der Transporte, um Intensivpatientin-
nen und -patienten aus Bayern und Teilen
Ostdeutschlands in andere Krankenhäuser zu
verlegen. Sie suchten freie Betten, Intensiv-
krankenwagen, Hubschrauber, Flugzeuge.
Die Leute in den Krisensitzungen trugen
zum Teil dieselben Klamotten wie am Vortag,
erzählt er heute. Gräsner schrieb dem SPIEGEL
damals: »Wir haben keinen Grund, von Triage
zu sprechen. Das ist in der jetzigen Sicht un-
verantwortlich und unnötig. Die vorbereite-
ten Mechanismen greifen.« Heute fühlt er sich
bestätigt. Inzwischen schläft er wieder sieben
Stunden pro Nacht.
115 Patienten hätten sie in der heißen Phase
verlegt, erzählt Gräsner. »Da war richtig
Druck im Kessel.« Ab Mitte Dezember habe
sich die Lage gebessert. Er vermutet, dass
auch die Berichterstattung eine Rolle gespielt
habe. »Die Leute haben gesehen: Das ist rich-
tig ernst.« Das, vermutet er, habe zu einem
Umdenken und mehr Vorsicht geführt.
Aber es waren nicht nur Medien, die häu-
fig von der Triage schrieben. Expertinnen und
Experten aus dem gesamten Gesundheits-
wesen warnten. »Ich habe damals mit Kolle-
gen aus Bayern telefoniert, die haben gesagt:
›Wir brauchen Hilfe, sonst muss ich bald sa-
gen: Du ja, du nein.‹ Die Situation war real,
der Druck war real. Die hatten zehn Betten
für zwölf Patienten, und zehn standen noch
vor der Tür. Und wenn man dem ein Mikro
hinhält – klar sagt der, was Sache ist«, so Gräs-
ner heute.
Das Kleeblattkonzept war zuvor nie an-
gewandt worden. Vor Ende November 2021
hat niemand in Deutschland gewusst, ob es
wirklich funktioniert. Auch das war eine der
Unwägbarkeiten der vierten Welle.
Annette Großbongardt, Tobias Großekemper,
Christopher Piltz, Hannes Schrader,
Steffen Winter n

SüdSüd

Süd-
west

Süd-
west

WestWest

Mecklenburg-
Vorpommern
Brandenburg
Berlin

Thüringen

Sachsen

SGrafik

Im Krisenmodus


Wie das während der Coronapandemie
eingeführte »Kleeblattkonzept« funktioniert

Die Bundesländer sind in fünf »Kleeblatt«-
Regionen eingeteilt. Wenn in einem Teil des
Kleeblatts kaum noch Intensivbetten frei sind,
werden Patienten innerhalb dieses Kleeblatts
verlegt. Ist die gesamte Region überlastet, wird
bundesweit verlegt.

OstOst

NordNord

Sachsen-
Anhalt

Schleswig-
Holstein

Nieder-
sachsen

Nordrhein-
Westfalen

Bremen

Rheinland-
Pfalz

Hessen

Saarland

Baden-
Württemberg

Bayern

Hamburg

Elbe, 80, zählte zu den engsten Mitarbeitern
von Außenminister Hans-Dietrich Genscher.
Von 1987 bis 1992 leitete er das Ministerbüro,
1990 war er Mitglied der Bonner Delegation
bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über
die deutsche Einheit. Bis 2005 vertrat er die
Bundesrepublik als Botschafter in mehreren
Staaten, darunter Polen. Heute ist er als An-
walt tätig und soll Mandate auch aus Russland
übernommen haben. Elbe sagt dazu, dass
grundsätzlich seine Anwaltstätigkeit seinen
Blick auf die Zeit als Diplomat nicht beein-
flusse; im Übrigen dürfe er sich zu Mandanten
nicht äußern.

SPIEGEL: Herr Elbe, Russland und der Westen
streiten seit Jahren, ob es im Rahmen der
deutschen Einheit eine Zusage des Westens
gegeben habe, die Nato nicht nach Osten zu
erweitern. Was ist Ihre Erinnerung?
Elbe: Nach dem Fall der Mauer am 9. No-
vember hatten wir Sorge, wie sich unsere
Verbündeten und die anderen Staaten Euro-
pas zu der Entwicklung in Deutschland
stellen würden. Das war auch berechtigt.
Aber wir rechneten fest mit der Hilfe der
Amerikaner. Doch dann überraschte uns
US-Außenminister James Baker am 12. De-
zember 1989 mit einer Rede, der zufolge die
USA die Einheit zwar unterstützen würden,
allerdings unter der Voraussetzung, dass
ein geeintes Deutschland Mitglied der Nato
bleibe.
SPIEGEL: Eine utopische Forderung?
Elbe: Sie brachte uns jedenfalls in eine schwie-
rige Lage, denn die Sowjets lehnten das
schlichtweg ab. Wir haben daher für Genscher
einen Redeauftritt in Tutzing für den 31. Ja-
nuar 1990 organisiert. Sie müssen sich die
Situation vor Augen halten: Genscher konn-
te sich den amerikanischen Vorschlag nicht
zu eigen machen. Das hätte bei uns niemand
verstanden. Man hätte ihm vorgeworfen, die

»Das würde


ich sogar


beeiden«


ZEITGESCHICHTE Hat der Westen
1990 versprochen, die Nato
nicht zu erweitern? Das behauptet
Russland. Genschers Spitzen­
diplomat Frank Elbe erzählt, was
daran stimmt – und was nicht.

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