Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 51

A


m Freitag bevor Putins Raketen
in seiner Stadt einschlagen und
russische Panzer die Grenze
überqueren, steht Wjatscheslaw auf
einem Parkplatz am Rande Kiews,
sein Funkgerät hat er umklammert,
die Augen nach Osten gerichtet. Dort
steht ein Taubenstall. Acht Vögel
hocken darin, sie lassen die Köpfe
hängen. Wjatscheslaw betrachtet sie
eine Weile, dann sagt er: »Die sind
schon so lange eingesperrt, die wissen
wahrscheinlich gar nicht mehr, wie
man fliegt.«
Wjatscheslaw, 33 Jahre alt, Vater,
ein gutmütiger Mann mit breitem Ge­

sicht, will seinen vollen Namen nicht
in der Zeitung lesen. Er hat in den
Separatistengebieten im Osten noch
Familie, die er schützen möchte.
Wenn man fragt, was er mache, sagt
er, er sei Chefingenieur. In der Tasche
seiner Winterjacke trägt er Visiten­
karten, auf denen »Direktor« steht.
In Deutschland wäre er wahrschein­
lich ein Hausmeister und mit der
Übersetzung des Begriffs, dem Meis­
ter eines Hauses also, kann sich Wja­
tscheslaw anfreunden. Er hat zwei
Telefone. Jeder kenne ihn, sagt er,
und wer den Regeln folge, der habe
auch nichts zu befürchten. Zu seinen
Aufgaben gehört es normalerweise,
den Boiler des großen Wohnblocks
hinter ihm zu warten und flackernde
Glühbirnen auszutauschen. Heute
aber ist seine Aufgabe, sich auf den
Krieg vorzubereiten.
Aus dem Kindergarten des Hauses
spaziert eine Gruppe Mädchen he­
raus in den kalten Wind Kiews. Sie
singen ein englisches Kinderlied, die
Erzieherin spielt es ihnen auf dem
Handy vor. Wjatscheslaw winkt ihnen
zu und vergräbt dann die Hände tie­
fer in den Taschen seiner Winterjacke.
Er wartet auf die Inspektion, sagt er.
Der Direktor der städtischen Sicher­
heitsbehörde wollte heute den Keller
des Wohnblocks kontrollieren. Bei
einem Luftangriff werden die Bewoh­
ner des Hauses versuchen, sich dort­
hin zu retten.
Wjatscheslaws Hochhaus ist ein
76 Meter hoher Block aus Beton an
der Stadtgrenze, direkt an der sechs­
spurigen Hauptstraße, die Kiew mit
dem Rest des Landes verbindet. Im
Falle der Einkesselung liegt er an der
Front. Wjatscheslaw hat in den ver­
gangenen Tagen Kanister voller Was­
ser in den Fahrradkeller geschleppt,
einen Generator besorgt, falls der
Strom ausfällt, er hat den Müll weg­
geräumt, damit niemand bei der
Flucht stolpert, die Heizung über­
prüft, damit niemand friert, wenn der
Angriff beginnt. Und er hat dafür ge­
sorgt, dass neue Schilder an den
Wänden hängen, damit jeder weiß,
wohin er laufen muss, wenn die Sire­
nen ertönen. Aber wird das alles aus­
reichen?
In seiner Verantwortung liegen
510 Wohnungen und 1500 Menschen,
Babys, Frauen, Männer, Rollstuhlfah­
rer, Greise, ein Kindergarten, ein Ge­
mischtwarenladen, ein Spielplatz.
Wenn es losgeht, fragt sich Wjatsche­
slaw, wird er es dann schaffen, das
Richtige zu tun?
Sein Wohnblock liegt auf der rech­
ten Seite des Flusses Dnjepr, im Stadt­
teil Holosijiw. Der Baulärm ist hier

bis zum Angriff den ganzen Tag zu
hören, viele solcher Hochhäuser ent­
stehen gerade am Stadtrand, jede
Wohnung ist belegt. Für 50 Quadrat­
meter zahlen Familien etwa 300 Euro
Miete, viel Geld bei einem Durch­
schnittslohn in Kiew von 600 Euro.
In Wjatsche slaws Haus wohnen nor­
male Leute, sagt er, Leute, die sich an
die Regeln halten. Sie sollen keine
fremden Parkplätze belegen und ihre
Zigarettenstummel nicht liegen lassen.
Das ist ihm wichtig.
Der Direktor der Sicherheits be­
hörde ruft an, er verspätet sich. Wja­
tscheslaw wird unruhig, er will den
Journalisten vom SPIEGEL, die zu
Besuch gekommen sind, jetzt schon
den Schutzraum zeigen, an dem er
so lange gearbeitet hat. Er zeigt auf
ein Schild vor ein paar aufgestapel­
ten Pflastersteinen. Auf dem Schild
steht: »Stimmungsvolles Fitness­
studio für Erwachsene und kleine
Freunde«. Dahinter befindet sich der
Schutzraum.
Tagsüber werden dort Kurse für
Poledance angeboten, Gewichthe­
ben und Yoga, erklärt Wjatsche slaw.
Als er die Stufen hinuntergeht und
die schwere Tür zum Keller öffnet,
sieht man dahinter drei Frauen auf
Sportmatten, die gerade den Son­
nengruß machen. Wjatscheslaw
führt schnell ein Zimmer weiter.
300 Quadratmeter ist das Kellerge­
schoss groß, erklärt er. Im Fall des
Angriffs müssten 1500 Menschen
hier Platz finden, das wären fünf
Menschen auf einen Qua dratmeter,
stehend, über Stunden.
Der Direktor der städtischen Si­
cherheitsbehörde kommt herein,
schaut sich kurz um und nickt zufrie­
den. »Dieser Schutzraum gehört zu
den besten der Stadt«, sagt er und
schüttelt Wjatscheslaw die Hand. Der
Direktor ist rot im Gesicht, er wirkt
müde, bei der Frage nach seinem
Schlaf lacht er kurz. In den letzten
Wochen mussten seine Mitarbeiter
Hunderte Schutzräume inspizieren
und zusätzlich die Evakuierung der
Stadt vorbereiten.
Jeder in der Stadt weiß, dass Pu­
tins Armee das Herz des Landes be­
droht, den Sitz des Präsidenten und
der militärischen Führung. Schon seit
Wochen ist das Szenario bekannt,
auch wenn es die meisten immer noch
nicht glauben können: Russische
Truppen greifen aus Belarus und aus
Russland die Hauptstadt in einer Zan­
genbewegung an, unterstützt von
Raketenbeschuss und Luftangrif fen.
Sobald Kiew umzingelt ist, sind alle
Nachschubrouten abgeschnitten.
Wjatsches law sagt dazu das, was fast

Das Problem
ist – Russland
weiß genau,
wo die Bunker
stehen.

moskautreue
Separatisten-
gebiete

von Russland
annektierte Krim

RUSSLAND

UKRAINE

500 km
SKarte: Open Street Map

Kiew

Maxim Dondyuk / DER SPIEGEL

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