Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
52 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

REPORTER UKRAINE-KRIEG

alle in der Stadt sagen, die man fragt: »Wir
leben seit acht Jahren im Krieg mit Russland.
Wir sind vorbereitet.«
Die letzten echten Bunker, erzählt der Di-
rektor, wurden in Kiew noch zu Sowjetzeiten
Mitte der Achtzigerjahre gebaut, sie waren
für den Kalten Krieg gedacht und sollten
einem Atomschlag standhalten. Nur zehn
Prozent der Bevölkerung hätten in ihnen
Platz gefunden: hauptsächlich Beamte der
Regierung. Das Problem mit diesen Bunkern
ist, dass Russland genau weiß, wo sie stehen.
Genug Zeit, um neue, echte Bunker zu bauen,
die einem Raketenangriff standhalten könn-
ten, gibt es nicht mehr.
Deshalb sind Hausbesitzer angewiesen
worden, selbst vorzusorgen. Die knapp 4500
provisorischen Schutzräume, die in den ver-
gangenen Jahren entstanden sind, liegen nicht
in zehn Meter Tiefe, haben keine meterdicken
Betonwände, Luftfilter oder Feldbetten. Es
sind ausgeräumte Fahrradkeller, U-Bahn-Sta-
tionen, Parkhäuser. Einer ist auch in einem
Stripklub.
In Kiew, sagt der Direktor, wohnen offi-
ziell 3 Millionen Menschen, aber vermutlich
seien es eher 4 Millionen. Sie haben Platz in
den Bunkern für 2,8 Millionen Menschen.
Was ist also mit den restlichen 1,2 Millionen
Menschen? Der Direktor zuckt die Schultern.
»Wir gehen davon aus, dass sie fliehen.« Er
selbst und seine Leute wären die Letzten, die
die Stadt verlassen würden. Wenn sie es
schafften. Dann verabschiedet er sich. Wja-
tscheslaw bietet noch eine Führung zur Hei-
zungsanlage an.
Der Krieg legte sich bisher über den Alltag
wie eine Decke, unsichtbar, aber immer prä-
sent. Es war leicht, ihn zu vergessen oder ihn
zu verdrängen. Doch mehr als 13 000 Men-
schen sind in diesem Krieg, der im Osten des
Landes seit 2014 geführt wird, bereits gestor-
ben, von Scharfschützen erschossen, getrof-
fen von Artilleriegeschossen und Granatsplit-
tern. Noch mehr Menschen haben um Freun-
de und Familie trauern müssen. Sie haben
ihre Arbeit verloren, sind weggezogen oder
geflohen. Und noch etwas ist geschehen:

Menschen, die sich einmal nahe waren, kämp-
fen nun gegeneinander.
Am Abend kommt Wjatscheslaw in das
Café seines Hauses, um seine Geschichte zu
erzählen. Er legt sein Funkgerät auf den Tisch,
zieht seine Jacke aus und zeigt sein Handy.
»Habt ihr die Nachrichten gesehen?«, fragt er.
Gerade hat ein Mann, der sich als Präsident
der Volksrepublik Luhansk ausgibt, dazu auf-
gerufen, die Bewohner der Region nach Russ-
land zu evakuieren. Es ist Wja tscheslaws Hei-
mat. Der Präsident ist ein Mann, den Wja-
tscheslaw nicht kennt und den er verachtet,
der aber nun über das Schicksal seiner Fami-
lie bestimmen kann.
Wjatscheslaw ist in Antrazyt geboren,
einer Bergarbeiterstadt im Osten der Ukrai-
ne, kurz vor der russischen Grenze. Sie ist
benannt nach der besten und härtesten
Kohle, die es gibt. Er erinnert sich an die
Werk sirene, die jeden Morgen ertönte, an
den Geruch der brennenden Feuer, an den
Ruß auf der Haut, an den Geschmack von
Schmalz auf dem Brot. Sein Großvater hat
für die Minen gearbeitet, sein Vater hat für
die Minen gearbeitet. Wjatscheslaw wollte
mehr, raus aus den Minen, und er fing an, in
einem Geschäft Pumpen zu verkaufen. Dort
lernte er seine Frau kennen. Er heiratete sie
und bekam sein erstes Kind. Er ging mit ihm
spazieren, an den Abraumhalden der Stadt,
an der Statue des Bergarbeiters, der den
Kohle brocken stemmt. Eigentlich, sagt er,
war alles gut.
Doch 2014 kamen Kosaken in Tarnuniform
in den Ort, brachten Granatwerfer und Flug-
abwehrraketen mit, hissten auf dem Rathaus
die russische Flagge und rekrutierten Mit-
glieder für die lokale Bürgerwehr. Seine
Freunde redeten davon, dass sie gern wieder
zu Russland gehören würden. Dort würde es
Arbeit in den Bergwerken geben, wie zu Sow-
jetzeiten, als die Lenin-Statue im Zentrum
der Stadt noch etwas bedeutete. Seine Eltern
glaubten, sie würden dann eine höhere Ren-
te bekommen. Vielleicht war es das Verspre-
chen der Vergangenheit, das die Menschen
um Wjatscheslaw faszinierte: Alles hat seine

Ordnung. Alles wird wieder gut. Wjatsche -
slaw aber glaubte nicht daran. Und er wollte
auch nicht zu Russland gehören.
Seine Firma wurde ins ukrainische Char-
kiw verlegt. Wjatscheslaw packte an einem
Tag im Juni seinen Laptop und ein paar Kla-
motten ein und fuhr, so erzählt er, mit dem
letzten Zug aus Antrazyt ab, um weiter Geld
für seine Familie zu verdienen. Am Bahnhof
pöbelten die Kosaken ihn und die Mitrei-
senden an: »Wo fahrt ihr hin, ihr Schweine?
Warum haut ihr ab? Wir sind hier, um euch
zu beschützen.« Warum beleidigen die uns,
fragte sich Wja tscheslaw. In ein paar Wochen,
sagte er seiner Frau, sei der Spuk vorbei. Das
ist jetzt acht Jahre her.
Er habe alles versucht, sagte Wjatscheslaw,
und hebt hilflos die Hände. Er habe seine
Frau wieder und wieder angerufen und ihr
gesagt, er könne sie und den Sohn holen, er
habe gute Arbeit gefunden. Aber seine Frau
wollte nicht kommen. Sie habe ihre Familie
dort, sagte sie. Antrazyt sei ihre Heimat.
Auch seine Eltern wollten nicht kommen, sie
seien zu alt für den Umzug, meinten sie, das
lohne nicht mehr.
Seine Freunde sagten, sie glaubten nicht
an Arbeit in der Ukraine, im russischen
Staatsfernsehen würden sie andere Bilder
sehen. Viele von ihnen, sagt Wjatscheslaw,
seien immer noch arbeitslos. Eine neue
Grenze aus Stein und Draht entstand lang-
sam um seine alte Heimat, Männer mit Waf-
fen stellten sich vor die wenigen Übergänge,
und wenn Wjatscheslaw hinfuhr, dann frag-
ten ihn Männer, die er nicht kannte, was er
eigentlich in seiner Heimatstadt wolle. Wja-
tscheslaw blieb nichts anderes übrig, als sei-
nen Sohn über Skype aufwachsen zu sehen.
Auf dem kleinen Bildschirm konnte er ver-
folgen, wie sein Sohn sprechen lernte, Ge-
burtstage feierte und immer wieder fragte,
wann sein Vater wiederkomme. Heute ist er
neun Jahre alt.
Wenn Wjatscheslaw über seinen Sohn
spricht, wird seine Stimme leise. Beim letz-
ten Gespräch, sagt Wjatscheslaw, habe der
ihn gefragt, warum die Ukraine sie angreifen

Schutzraum für Bürger, Krankenwagen für den Verwundetentransport: Menschen, die sich einmal nahe waren, kämpfen nun gegeneinander

Maxim Dondyuk / DER SPIEGEL Maxim Dondyuk / DER SPIEGEL

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