Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 53

wolle. Aber das wollen wir doch gar nicht,
habe Wjatscheslaw geantwortet. Da habe
seine Frau das Gespräch abgebrochen.
Wjatsche slaw zieht die Schultern hoch und
sagt, es fühle sich an, als wäre seinem Sohn
das Gehirn gewaschen worden. Er erkenne
ihn nicht mehr wieder. Er hoffe, wenn sein
Sohn 18 Jahre alt sei, könne er ihn holen und
ihm alles erklären. Er hoffe, ihn zu finden,
wenn er nach Russland evakuiert wird, nicht
dass er irgendwo in Sibirien landet. Der Jun­
ge könnte dann mit ihm in die Ukraine kom­
men, in sein neues Zuhause. Wenn er dann
noch will, wenn er seinen Vater dann noch
kennt. Aber richtig überzeugt klingt Wja­
tscheslaw nicht.
Er habe beschlossen, sein Leben zu teilen,
sagt er, in die Zeit vor und nach dem Krieg.
Er strafft seinen Körper, blickt wieder auf sein
Funkgerät. Irgendwie habe er auch Glück ge­
habt, sagt er. Er hat mit nichts angefangen, und
sich nach oben gearbeitet. Sein Büro liegt
im 25. Stock in Kiew, in diesem Wohnblock. Er
fühlt sich hier ernst genommen, er hat auch
schon ein paar Ideen umgesetzt, beispiels­
weise ein neues Steuerungssystem für den
Fahrstuhl oder bessere Sicherheitskameras.
Vielleicht könnte er wirklich einmal Direktor
werden.
Mittlerweile, das erzählten ihm seine El­
tern, habe seine Frau einen neuen Mann. Er
habe sich erst wütend, dann ohnmächtig
gefühlt, als sie ihm das gesagt haben. Aber
was könne er tun? Mit seinem Vater redet
er nicht mehr über Politik. Seine alten
Freunde sind auf russischen sozialen Netz­
werken unterwegs. Sie gratulierten ihm noch
manchmal zum Geburtstag, dann hörte auch
das auf. Er würde sie auch nicht mehr als
seine Freunde bezeichnen, sagt er. Das sei­
en jetzt Feinde. Und Feinde müsse man be­
kämpfen.
Am nächsten Morgen kniet Wjatscheslaw
im Wald von Holosijiwkyj, nur ein paar Kilo­
meter von seinem Wohnblock entfernt. Ein
Freund hat ihm die Position der Lichtung, an
der sie sich treffen, über Facebook geschickt.
In der Nähe trainieren Menschen ihre Hunde.

Wjatscheslaw hält ein Holzgewehr in der
Hand, er trainiert heute das Töten.
Er hat entschieden, sich der Bürgerwehr
seines Stadtteils anzuschließen, der soge­
nannten Teroborona. Sie treffen sich jeden
Samstag zum Trainieren, bringen Kalaschni­
kows aus den Sechzigerjahren mit, üben,
Wunden zu verbinden und sich anzupirschen.
Ein paar kommen mit Einkaufs taschen oder
Knieschützern von der Baustelle. Die Ein­
heiten hätten sich, sagt der Kommandant,
nach dem Vorbild der Schweiz oder Israels
formiert. Wenn der Russe angreife, dann wer­
de er vermutlich den Staudamm oder die
Brücken über den Fluss sprengen, um die
Stadt zu teilen, vielleicht versuche er auch
einen Angriff auf ein Atomkraftwerk, um
Panik zu verbreiten.
Jeder Bewohner solle dann eine Waffe zu
Hause haben, um sich verteidigen zu können.
Das Ziel sei ein ganzes Volk als Armee. Haus­
frauen sind heute in den Wald gekommen;
eine Opernsängerin ist dabei, Lehrer, Bau­
arbeiter, Soziologen. Die Opernsängerin sagt,
sie singe am liebsten Mozart, aber seit ihr
Bruder von den Russen erschossen worden
sei, will sie auch kämpfen. Die Soziologin
sagt, nach der Analyse der Nachrichtenlage
sei diese Ausbildung eine logische Konse­
quenz. Der Lehrer sagt, er habe sich schon
immer sehr für Waffen interessiert, für deut­
sche Panzer und Geschichte. Er übe auch gern
mit Kindern die Landminensuche, spielerisch
natürlich, das sei motivierend.
Wjatscheslaw steht in einer Reihe mit den
anderen, die Augen geradeaus. Vor ihm
schreit ihr Ausbilder, ein Mann mit Tarnklei­
dung und Kalaschnikow. Wjatscheslaw tut
sich schwer mit dem Töten. Er übt immer
wieder das Anlegen über die Schulter, das

genaue Visieren über Kimme und Korn, das
Betätigen des Abzugs, das Aushalten des
Rückstoßes. Aber er mache es nicht gern, sagt
er, außerdem tun ihm die Knie weh. Er möch­
te wieder zurück nach Hause, noch ein You­
Tube­Video über Pumpen angucken. Seine
Mama, sagt er, meinte, es müsse an der Front
Soldaten geben, aber es müsse auch Leute
geben, die im Hintergrund arbeiten. Und er
sei gern Hausmeister.
Ihr Ausbilder ruft: »Ihr müsst lernen, wie
der Feind zu denken!« Sie sollen sich auf
Kommando im Kreis drehen, durch den
Wald schleichen und versuchen, sich dabei
gegenseitig zu decken. Erst nach einer Wei­
le ist er mit der Gruppe zufrieden, aber da
ist Wja tscheslaw schon auf dem Weg nach
Hause.
Ihor ist auch bei der Truppe, auch er
Hausmeister aus einem benachbarten Wohn­
block. Er war im Krieg, sagt er, zeigt seine
Narbe auf der Stirn und ein Foto der schwe­
ren Ver letzung von den Kämpfen bei De­
balzewe, einer der heftigsten Schlachten
des Krieges, bei denen mehrere Tausend
uk rainische Soldaten eingekesselt wurden.
An seiner Uniform hängt eine Tapferkeits­
medaille.
»Der Krieg«, sagt er, »hat Konsequenzen.«
Als der Ausbilder ruft, bleibt Ihor dennoch
stehen, als hätte er ihn nicht gehört. Er raucht
und schaut in die schwingenden Äste über
ihm, als wäre er mit den Gedanken woanders.
Dann deutet er auf die Freiwilligen, die das
Anlegen, Zielen und Marschieren üben.
»Sie glauben, ihre Stadt zu verteidigen.
Aber die Hälfte von denen wird an die
Front geschickt werden, wenn es losgeht.
Und die wissen nicht, was Krieg ist.«
Bevor er seine Zigarette austritt und zu
seiner Einheit geht, sagt er noch: »Ihr Deut­
schen wisst schon, dass Putin in der Ukraine
nicht haltmachen wird, oder?« – »Putin –
chujlo«, sagt er. Es heißt »Putin ist ein Pim­
mel«, die übliche Beleidigung des russischen
Präsidenten in der Ukraine.
Am Abend hat Wjatscheslaw vorgeschla­
gen, einen Freund zu besuchen, Sascha. Der

Man sieht, wie Kinder
mit Gewehren
schießen und auf Panzer
steigen.

Freiwillige bei Arbeit an Tarnnetz, Hausmeister Wjatscheslaw: Der Krieg legt sich über den Alltag wie eine DeckeWjatscheslaw

Maxim Dondyuk / DER SPIEGEL Maxim Dondyuk / DER SPIEGEL

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