Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
6 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.

Es gilt, sich
von einigen
lieb gewon­
nenen Lebens­
lügen zu
verabschieden.

E


s gibt Dekaden, in denen passiert nichts, soll Lenin
gesagt haben. Und dann gibt es Wochen, in denen
werden Dekaden gemacht. Wie in dieser. Russlands
Diktator Wladimir Putin hat am Donnerstag wahr ge-
macht, wovor insbesondere die US-Regierung gewarnt
hatte: Er hat die Ukraine überfallen. Er hat sich dabei
nicht auf den Osten beschränkt. Sein Militär attackiert
das gesamte Land, auch die Hauptstadt Kiew.
Putin hat früh bewiesen, wie skrupellos er seine Ziele
verfolgt. Er hat Tschetschenien zu Beginn seiner Amtszeit
in Schutt und Asche bomben lassen. In Syrien fliegt seine
Luftwaffe Angriffe gegen Schulen und Krankenhäuser.
Auch aus seinen Plänen für die Ukraine hat er keinen
Hehl gemacht. Bereits vergangenen Sommer sprach er in
einem Aufsatz dem Land das Existenzrecht ab. Trotzdem
haben Politiker, insbesondere in Deutschland, bis zuletzt
seine Aggressionen relativiert. Man konnte oder wollte
sich nicht vorstellen, wie weit Putin gehen würde. Die
Putin-Versteher überall auf der Welt, sie tragen eine Mit-
schuld an diesem Krieg.
Putins Angriff gilt nicht nur der Ukraine. Er gilt Euro-
pa. Er gilt der gesamten demokratischen, regelbasierten
Welt. Und deshalb müssen sich die Demokratien dieser
Welt jetzt wehren.
Mit dem Überfall auf die Ukraine endet eine Epoche.
Die europäische Ordnung, die dem Kontinent nach
dem Ende des Kalten Krieges drei Dekaden relativer
Sicherheit beschert hat, zerbricht. Eine neue, gefährliche
Zeit beginnt. Und die Frage ist, ob Europa darauf vor-
bereitet ist.
Die Europäer haben sich bequem in der alten Ordnung
eingerichtet. Sie haben in Reden Demokratie und Men-
schenrechte hochgehalten und gleichzeitig Geschäfte mit
Diktaturen wie Russland gemacht. Für Sicherheit sorgten

im Zweifelsfall die Amerikaner. Nun gilt es, sich von
einigen lieb gewonnenen Lebenslügen zu verabschieden.
Da ist die Annahme, dass sämtliche Konflikte durch
Zureden zu lösen sind. »Im Dialog bleiben« ist das Man-
tra deutscher Politik, egal ob gegenüber Putin, Erdoğan
oder Xi Jinping. Aber was, wenn Typen wie Putin gar
nicht reden wollen, wenn sie negieren, dass Geschichte
stattgefunden hat, wenn sie Verhandlungen nur als Vor-
wand nehmen, um einen Angriffskrieg vorzubereiten?
Die Empörung über Putins Täuschungsmanöver ist in
Europas Hauptstädten gerade groß. Sie kommt zu spät.
Tatsächlich hätten die Europäer sehr viel früher auf Kon-
frontation zu dem Machthaber im Kreml gehen müssen.
Falsch ist auch der Glaube, man könnte einen Großteil seiner
fossilen Rohstoffe aus Russland beziehen und sich gleich-
zeitig seine Unabhängigkeit gegenüber Moskau bewahren.
Es war geradezu peinlich, wie lange die Bundesregierung
an der Gaspipeline Nord Stream 2 festhielt. Man hätte die
Sanktionen, die nun diskutiert werden, bereits nach Putins
Annexion der Krim 2014 verhängen sollen. Der Opportu-
nismus der EU-Staaten gegenüber Russland hat Putin nur
animiert, sein mörderisches Spiel immer weiterzutreiben.
Und schließlich müssen sich die Europäer mit dem
Gedanken anfreunden, dass Militär auch im 21. Jahrhun-
dert ein Faktor bleibt. Viele dachten, das Schicksal von
Nationen würde einzig durch Wirtschaftsdaten bestimmt,
durch Technologie. Nun demonstriert Putin, dass sich
auch mit sehr viel archaischeren Mitteln Politik machen
lässt, mit Panzern, Kampfjets, Artillerie.
Es wäre naiv zu denken, dass der Konflikt mit dem
Putin-Regime auf die Ukraine begrenzt bleibt. Putin führt
seit Jahren einen hybriden Krieg gegen Europa, etwa in-
dem er autoritäre Parteien finanziert. Diesen Krieg dürf-
te er noch forcieren.
Die Europäer müssen sich dagegen wappnen, indem
sie das entwickeln, was Frankreichs Präsident Emmanu-
el Macron »strategische Autonomie« nennt. Sie müssen
sich dagegen verwahren, dass ihre Institutionen durch
Moskau von innen heraus zerstört werden. Putins Krieg
gegen die Ukraine muss der Anlass sein, Russland endlich
aus dem Europarat zu verbannen.
Sie müssen sich wirtschaftlich unabhängig machen
von Russlands Öl und Gas. Wenn es noch ein Argument
gebraucht hat für den massiven Ausbau von erneuer baren
Energien – Putin hat es mit seinem Krieg gegen die
Ukraine geliefert.
Eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik ist
überfällig, auch um weniger auf die USA angewiesen zu
sein. Man mag sich nicht vorstellen, was wäre, wenn in
der gegenwärtigen Krise Donald Trump statt des Trans-
atlantikers Joe Biden im Weißen Haus säße.
Die Welt ist mit dem 24. Februar 2022 eine andere
geworden. Die Europäer müssen sich darauf einstellen,
um darin zu überleben.

Angriff auf Europa


LEITARTIKEL Mit Putins Krieg gegen die Ukraine beginnt eine neue, gefährliche Epoche in der Weltpolitik.
Die Europäer müssen sich besser aufstellen, wenn sie überleben wollen.

Beschädigte
Radaranlage bei
Mariupol

Maximilian Popp n

Sergei Grits / AP

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