Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 61

Krieg an der Grenze der Ukraine nicht halt-
macht?
»Die Coronapandemie hat die großen geo-
politischen Verformungen überlagert, die es
zwischen Entwicklungs- und Industrieländern
sowie unterschiedlichen politischen Systemen
gibt«, sagt Joe Kaeser, Aufsichtsratschef von
Siemens Energy. Diese Entwicklung könne
für exportorientierte Volkswirtschaften wie
die deutsche dramatische Folgen haben.
Die Ära des Freihandels und der relativen
weltpolitischen Stabilität, von der die deut-
sche Volkswirtschaft wie keine andere profi-
tiert hat, ist passé. Und damit die Grundlage
ihres Erfolgsmodells. Über Jahrzehnte profi-
tierten deutsche Unternehmen von den offe-
nen Märkten, sie befeuerten die Industriali-
sierung von Schwellenländern und nicht zu-
letzt Chinas mit Maschinen, Robotern und
Anlagen. Sie bedienten dort die Nachfrage
einer wachsenden Mittelschicht nach Autos
und anderen Konsumgütern.
Solange die internationale Arbeitsteilung
weitgehend reibungslos funktionierte, war
das überaus gewinnbringend für die heimi-
sche Wirtschaft. Im Rausch stetiger Wohl-
standszuwächse haben es Politik und Unter-
nehmen versäumt, die eigene Versorgung mit
Rohstoffen und Vorprodukten abzusichern
sowie Schlüsseltechnologien wie Halbleiter
und Batterien selbst zu entwickeln. Man kann
das als naiv bezeichnen – oder fahrlässig.
Natürlich gab es ähnliche Risiken immer
wieder. Doch diesmal scheint die Dimension
eine andere zu sein: Ein neuer kalter Krieg
bricht sich Bahn, diesmal nicht geführt mit
atomarer Abschreckung, sondern mit wirt-
schaftlichen Mitteln.
Historische Langzeitstudien, wie sie etwa
das Institut für Weltwirtschaft in Kiel (IfW)
erhebt, zeigen, dass Staaten ihre ökonomische
Macht immer wieder missbraucht haben. Neu
ist, dass die Idee des Freihandels grundsätz-
lich in Zweifel gezogen wird. In den ver-
gangenen zehn Jahren, sagt IfW-Volkswirtin
Katrin Kamin, seien nationale ökonomische
Interessen wieder stärker in den Mittelpunkt
gerückt.
Das hänge zusammen mit dem Aufstieg
Chinas und dem steigenden Machtanspruch
von Staaten wie Brasilien, Indien und Russ-
land. Zugleich sei die Wirtschaft weltweit
stärker vernetzt und integriert. Das schaffe
»neue Hebel und Verwundbarkeiten«, so Ka-
min. Zumal sich Demokratien weltweit auf
dem Rückzug befänden. Man habe beobach-
tet, »dass autokratisch und populistisch re-
gierte Länder stärker auf protektionistische
Maßnahmen zurückgreifen«.
Man kann statistisch belegen, dass die
Handelskonflikte vor allem in den vergange-
nen zehn Jahren enorm zugenommen haben.
Nach Daten des IfW ist die Zahl der verhäng-
ten Sanktionen von 20 im Jahr 1950 auf 250
im Jahr 2019 gestiegen. Geopolitische Ziele,
so Kamin, würden immer öfter mit geoöko-
nomischen Instrumenten verfolgt. Die USA
und China seien besonders versiert in dieser

Art der Kriegsführung. Europa und der Ex-
portnation Deutschland scheine »eine geo-
ökonomische Strategie« zu fehlen, »wie die
neue Weltlage mit dem bisherigen Geschäfts-
modell zu vereinbaren ist«.
Der Ukrainekonflikt liefere Anschauungs-
unterricht dafür, wie veränderte politische
Rahmenbedingungen auf die Wirtschaft wir-
ken, warnt Klaus Mangold. Der frühere Daim-
ler-Vorstand, Ostausschuss-Vorsitzende und
Rothschild-Aufsichtsrat ist so etwas wie die
graue Eminenz des deutschen Osteuropa-
geschäfts, bis heute berät er viele Firmen in
Deutschland und Europa. Mangold sieht eine
der größten unternehmerischen Aufgaben
darin, Strategie und Lieferketten darauf ein-
zustellen, dass offene Märkte zunehmend ge-
fährdet sind. »Geopolitische Konflikte haben
in den vergangenen Jahren eine andere Di-
mension bekommen«, sagt der Manager, »sie
stehen auf der Agenda jedes Vorstands und
jedes Aufsichtsrats.«
Russland gilt seit Jahren als Großrisiko. Im
Zuge der Krimkrise hatte der Westen 2014

Sanktionen gegen russische Firmen und Per-
sonen verhängt. Die deutsche Industrie zog
sich teils zurück, teils arrangierte sie sich mit
einer »Go-local-Strategie«. Daimler eröffne-
te noch 2019 ein Montagewerk in Moskau,
um wohlhabende Russen unter anderem mit
SUVs zu versorgen. Jetzt geht man in Stutt-
gart von sinkenden Verkäufen aus.
Für den Gesamtkonzern sei der russische
Markt jedoch »nicht kritisch«. Das gilt für die
meisten Unternehmen. Der deutsche Außen-
handel mit Russland hatte 2012 mit 80 Mil-
liarden Euro einen Höhepunkt erreicht, seit-
dem ist er um mehr als ein Viertel ein-
gebrochen. Die Entflechtung dürfte weiter
voranschreiten.
Bei Siemens hat man mit Putin spezielle
Erfahrungen gemacht. 2017 tauchten auf der
Krim Gasturbinen von Siemens auf, die dort
wegen bestehender Sanktionen gegen Russ-
land nicht hätten sein dürfen. Der russische
Kunde TPE habe die Turbinen vertragswidrig
auf die Krim gebracht, erklärte Siemens die
Peinlichkeit.
An Deutschlands Industrie-Ikone kann
man gut sehen, wie sich die Welt gewandelt
hat. Vor 20 Jahren befasste sich die Abteilung
für Politik und Außenbeziehungen noch vor-
wiegend mit protokollarischen Fragen, etwa
wenn Staatsoberhäupter Werke besuchten.
Heute verfügt das Unternehmen über ein geo-
politisches Frühwarnsystem. Praktisch jeder
Konzern unterhält mittlerweile große Stäbe
in Berlin, Brüssel und anderen Hauptstädten,
um gefährdende Entwicklungen sofort zu
erkennen. Die Ländergesellschaften sind die

Wie verwundbar ist Russland?


Anzahl aktiver Wirtschaftssanktionen weltweit,
ausgewählte Beispiele

Weltmarktanteile der Top drei
Rohstoffförderer 2019, in Prozent

Weltmarktanteile der Top drei
Rohstoffveredler 2019, in Prozent

SQuellen: Global Sanctions Database, Felbermayr et al.; IEA

50

150

1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020

0

100

200

(^050100050100)
2022 könnte
aufgrund der
aktuellen
Russland-
Sanktionen ein
neuer Höchstwert
erreicht werden
raffiniertes Öl
Flüssiggasexport
Kupfer
Nickel
Lithium
Seltene Erden
Erdöl
Erdgas
Kupfer
Nickel
Seltene Erden
Lithium


42
48
49
84
56
87
darunter: Russland China darunter: Russland China
 





43
56
55
58
97
100
1966
Wirtschafts-
sanktionen
gegen
Rhodesien
1977
Waffen-
embargo
gegen
Südafrika
1980
US-Getreide-
embargo
gegen
die UdSSR
1990er-Jahre
u.a. Sanktionen gegen
Irak, Iran, Jugoslawien,
Libyen
2010er-Jahre
u.a. Sanktionen gegen
Russland, Nordkorea,
Belarus, Myanmar
»Geopolitische Konflikte
haben eine andere
Dimension bekommen.
Sie stehen auf der
Agenda jedes Vorstands.«
Klaus Mangold, Manager
2022-09SPAllWirtschaft612952209_GeopolitischeKrisen-060061 612022-09SPAllWirtschaft612952209_GeopolitischeKrisen-060061 61 25.02.2022 00:47:3625.02.2022 00:47:36

Free download pdf