Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
WIRTSCHAFT UKRAINE-KRIEG

62 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

zweite wichtige Komponente dieser Alarm-
anlage.
Im Risikobericht von Siemens werden die
geopolitischen Gefahren aufgeführt, mal
mehr, mal weniger konkret. Und stets im ge-
flissentlichen Jargon des Geschäftsberichts.
»Weitere wesentliche Risiken könnten sich
aus geopolitischen Spannungen (insbesonde-
re im Nahen und Mittleren Osten, in Hong-
kong und Taiwan), den Beziehungen der
Europäischen Union zu Russland ... und aus
politischen Umwälzungen ergeben«, heißt es
im jüngsten Exemplar.
Hongkong und Taiwan stehen dort bislang
nur in Klammern. Das ist an Understatement
kaum zu überbieten. Die beiden Länder im
Einflussbereich Chinas sind Teil jener Gefahr,
die langfristig alles überlagert. Die zuneh-
mende Konfrontation zwischen China und
den USA, die bis in den aktuellen Krieg wirkt.
Pekings Verständnis für die russische In-
vasion, die in China nicht so genannt werden
darf, erklärt sich manch Wirtschaftsvertreter
mit Chinas eigenen Expansionsgelüsten.
Staatspräsident Xi Jinping nutzt die Wirt-
schaft als Waffe, um seinen globalen Macht-
anspruch durchzusetzen. Über das Seiden-
straßen-Projekt will er die Kontrolle über
Handelsrouten nach Europa bekommen. Er
hat zehn Schlüsselindustrien ausgemacht, bei
denen sein Land weltweit führend werden
soll. Von der Rolle der Werkbank der Welt
hat sich die chinesische Wirtschaft längst
emanzipiert.
Deutsche Unternehmen bekommen das
bereits schmerzhaft zu spüren. Kaum einer
weiß das so gut wie Karl Haeusgen, 56,
Haupteigentümer des Hydraulikspezialisten
Hawe Hydraulik in Aschheim bei München.
Das Unternehmen erzielt 70 Prozent der
mehr als 450 Millionen Euro Umsatz im Aus-
land, rund 100 Millionen allein in China.
Hawe profitierte jahrelang von der Öffnung
der Volksrepublik, ähnlich wie viele andere
Maschinenbauer. Man produzierte in Deutsch-
land und exportierte nach China, mit Wachs-
tumsraten von 20 Prozent und mehr. »Aber
heute verfolgt China eine andere Politik und
strebt industriell von Bereich zu Bereich nach
Autarkie.« In den vergangenen Jahren hätten
deutsche Maschinenbauer in China in einigen
Bereichen dramatisch an Marktanteilen ver-
loren, zugunsten staatlich begünstigter chi-
nesischer Konkurrenten.
Wenn Wirtschaftspolitik wie in China und
den USA zur Außenpolitik werde, brauche es
eine Antwort, so der Unternehmer. Für Hawe
hat er eine gefunden. Der Mittelständler hat
in China ein Werk gebaut und eine deutsche
Firma mit einem Standort in China übernom-
men, um den lokalen Markt zu bedienen. Zu-
dem wendet sich Hawe vermehrt anderen
aufstrebenden Märkten wie Brasilien zu und
stärkt die Präsenz in den USA, um sich für
zurückgehende Umsätze in China zu wapp-
nen. Kleinere Mittelständler hätten jedoch oft
nicht die finanziellen Mittel, um eine solche
Strategie zu verfolgen, meint Haeusgen. »Das

reine Exportmodell wird für viele deutsche
Firmen nicht mehr lange gut gehen.«
Das größte Risiko schleppt die Autoindus-
trie mit sich herum. Hat sich die deutsche
Schlüsselbranche zu abhängig von China ge-
macht?
Ohne den Chinaboom wären VW, Daimler
und BMW niemals so groß geworden. Mehr
als ein Drittel ihrer Fahrzeuge setzen sie in
China ab, der Großteil der Gewinne speist
sich aus dem Riesenreich. Nur wie lange
noch? Xi will auch bei Autos an die Welt spitze


  • und er hat früh erkannt, dass Elektromobi-
    lität und vernetzte Fahrzeuge die Chance
    dazu bieten.


Für die deutschen Hersteller hat das zwei
Effekte: Ihnen sind in China lokale Konkur-
renten erwachsen, und sie sind für ihre eige-
nen vernetzten E-Autos wie nie zuvor auf
Vorprodukte aus China und dessen Einfluss-
bereich angewiesen. Viele der benötigten
Halbleiter stammen aus Taiwan, Batterie-
zellen häufig vom chinesischen Großanbieter
CATL.
Dazu kommt eine wachsende Abhängig-
keit von Rohstoffen. Für Akkus benötigt man
Lithium und Kobalt, für Elektromotoren Kup-
fer, für Brennstoffzellen Platin. Rund 70 Pro-
zent des globalen Bedarfs an Kobalt wird aus
Minen der Demokratischen Republik Kongo
gewonnen. Seltene Erden und Grafit stammen
überwiegend aus China.
Einige Firmen versuchen bereits, die Ma-
terialien durch andere Stoffe zu ersetzen. Der
Autozulieferer Mahle hat im vergangenen
Jahr den Prototyp eines magnetfreien Elek-
tromotors vorgestellt. Dadurch kann der
Stuttgarter Hersteller sich den Einsatz von
Neodym sparen, ein Metall der Seltenen Er-
den, das magnetische Kräfte verstärkt und in
E-Autoantrieben verwendet wird. Der Ver-
zicht auf Seltene Erden biete »geopolitische
Vorteile«, sagt Mahle-Vizechef Michael Frick.
Vor allem aber setzt die Industrie auf Re-
cycling, um sich aus der Abhängigkeit zu be-
freien. Rohstoffproduzenten und -händler
registrieren eine wachsende Nachfrage nach
wiederverwerteten Edelmetallen. Immer
mehr Kunden aus der Auto-, Chemie- oder
der Glasindustrie verlangten ausdrücklich
Recyclingware, sagt André Christl, Chef der
Edelmetallsparte von Heraeus in Hanau:
»Das Interesse steigt signifikant.«
Kurzfristig kann die Wirtschaft ihre Ab-
hängigkeit auch dadurch mindern, dass sie
ihre Lieferbeziehungen diversifiziert und
zweifelhafte Rohstoffquellen auslistet. Nickel
oder Vanadium werden nicht nur in Russland
oder China abgebaut, sondern auch in Staaten
mit geringem Länderrisiko wie Schweden
oder Finnland, allerdings zu höheren Preisen.
Nur reicht das schon? Brauchte es nicht
einen größeren Wurf?
China als Markt aufgeben, das will nie-
mand in der Autoindustrie. Aber von China
könne man lernen, sich weniger angreifbar
zu machen, sagt ein hochrangiger Vertreter
der Autoindustrie. Das Land habe die ver-
gangenen Jahre genutzt, sein eigenes Öko-
system aufzubauen – von Chips über Soft-
ware bis zu Batteriezellen.
Das nachzuahmen käme einer strategi-
schen Kehrtwende gleich. EU-Kommissions-
präsidentin Ursula von der Leyen ahnte schon
zu Beginn ihrer Amtszeit, dass es anders nicht
gehen werde. Die Staatengemeinschaft müs-
se eine »geopolitische« Vision entwickeln und
»die Sprache der Macht lernen«, forderte sie
markig, vor allem im Verhältnis zu China.
Doch das ist leichter gesagt als getan. Be-
reits die naheliegendste Frage lässt sich nicht
klar beantworten: Ist China wirtschaftspoli-
tisch Freund oder Feind? Die EU bezeichnet

Bedrohte Märkte


Mercedes-Benz-Montage bei Moskau

Qualitätskontrolle bei Continental

Siemens-Gasturbine bei Sankt Petersburg

»Das reine Exportmodell
wird für viele deutsche
Firmen nicht mehr lange
gut gehen.«
Karl Haeusgen, Unternehmer

Sergei Bobylev / TASS / action press

Lukas Barth-Tuttas / epa

Alexander Galperin / Sputnik / dpa

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