Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 63

Die Angst ist zurück


Erdgaspreis in Europa, in Euro
je Megawattstunde

Großhandelspreise
S^ Quelle: Refinitiv Datastream; Stand: 24. Februar, 18 Uhr

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SANKTIONEN

»Wenn Russland und China noch enger


zusammenrücken, haben wir schlechte Karten«


Der russische Einmarsch in die Ukraine könnte zu einer Rezession führen, warnt
Gabriel Felbermayr, 45, Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Trotzdem dürfe Europa vor einschneidenden Sanktionen nicht zurückschrecken.

SPIEGEL: Herr Felbermayr, während wir
dieses Gespräch führen, marschieren
russische Truppen in der Ukraine ein.
Mit welchen ökonomischen Folgen
müssen wir rechnen?
Felbermayr: Auch ich bin entsetzt und
überrascht. Die wirtschaftlichen Folgen
sind zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich
zu beziffern. Aber der russische Angriff
bedeutet nicht nur eine Tragödie für die
Menschen in der Ukraine, sondern dürfte
auch enorme wirtschaftliche Schäden
in Russland und Europa nach sich ziehen.
Auch deshalb, weil an massiven wirt­
schaftlichen Sanktionen jetzt kein Weg
mehr vorbeiführt.
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?
Felbermayr: Zwei Maßnahmen: Russland
sollte vom Zahlungssystem Swift abge­
koppelt werden, Europa sollte sämtliche
Gasimporte aus Russland einstellen. Bei­
des wird auch für Deutschland und Euro­
pa schmerzhafte Konsequenzen haben,
aber damit müssen wir leben. Wenn wir
diese Schritte jetzt nicht gehen, sondern
erst im kommenden Winter, dann werden
die Folgen nur noch schlimmer.
SPIEGEL: Europa versucht, durch Flüssig­
gas aus anderen Regionen weniger abhän­
gig von Russland zu werden.
Felbermayr: Trotzdem hätten wir spätes­
tens im nächsten Winter ein Versorgungs­
problem. Flüssiggas lässt sich nicht belie­
big nach Europa umleiten, zudem dürfte
die globale Nachfrage massiv steigen.
Und Deutschland verfügt ja noch nicht
einmal über die notwendigen Terminals
für den Transport. Man muss es leider
so sagen: Europa hat mit Nord Stream 2
zu lange auf das falsche Pferd gesetzt.
Jetzt fehlen die Alternativen.
SPIEGEL: Wäre es nicht Zeit für Europa,
sich vom Erdgas ganz zu verabschieden?
Felbermayr: Das ist Wunschdenken. Die
Umstellung auf eine Wasserstoffwirtschaft
wird Jahrzehnte dauern. Europa hat gera­
de erst beschlossen, stärker auf Erdgas
als Brückentechnologie zu setzen. Außer­
dem braucht die Industrie das Gas als
wich tigen Rohstoff – vom Düngemittel bis
zur Joghurtproduktion. Ein Boykott Russ­
lands würde nicht nur für Preisschübe sor­
gen, sondern auch Lieferketten zerreißen
lassen. Und trotzdem halte ich das für den

richtigen Schritt. Es gibt keine Sanktion,
die uns nicht auch selbst treffen würde.
SPIEGEL: Deutschland und andere Länder
kämpfen mit der massiv gestiegenen In­
flation. Drohen weitere Preissteigerungen
und sogar eine Rezession?
Felbermayr: Schlimmstenfalls droht uns
exakt jenes gefürchtete Szenario, das
wir in der Ökonomie eine Stagflation nen­
nen – steigende Preise und stagnierende
Wirtschaft. Noch ist das reine Theorie,

aber die Notenbanken müssen sich für
dieses Szenario wappnen.
SPIEGEL: Was kann die Europäische Zen­
tralbank (EZB) tun?
Felbermayr: Eine einfache Lösung gibt es
leider nicht. Über russische Militäropera­
tionen wird ja nicht in der Frankfurter
EZB­Zentrale entschieden. Dass die Gas­
preise steigen, hat Christine Lagarde nicht
in der Hand. Aber sie muss klar kommu­
nizieren, dass sie eine Spirale aus höheren
Preisen und Lohnabschlüssen keinesfalls
tolerieren wird.
SPIEGEL: Welche Folgen hätte ein Aus­
schluss Russlands aus dem Zahlungsver­
kehrssystem Swift?
Felbermayr: Der Swift­Ausschluss würde
nicht nur ein Finanzembargo, sondern
letztlich einen nahezu vollständigen Wirt­
schaftsboykott bedeuten. Unternehmen
brauchen das Swift­System, um grenz­
überschreitende Zahlungen abzuwickeln.
Ohne Swift könnten Warenlieferungen
von und nach Russland kaum noch be­
zahlt werden. Das hätte auch für uns in
Europa empfindliche Konsequenzen.
SPIEGEL: Inwiefern?
Felbermayr: Ein Swift­Ausschluss würde
auch bedeuten, dass europäische For­
derungen gegenüber Russland nicht mehr
beglichen werden können. Europäische
Banken haben Kredite in Milliardenhöhe
gewährt, die dann nicht mehr zurück­
gezahlt werden können.
SPIEGEL: Kann das für deutsche Banken
gefährlich werden?
Felbermayr: Die deutschen Kreditinstitute
haben ihr Russlandgeschäft bereits deutlich
zurückgefahren. Ich glaube, dass sich
etwaige Folgen einer Swift­Sperre einhegen
lassen, aber die Verbindungen im Finanz­
sektor sind komplex. Ein Restrisiko bleibt.
SPIEGEL: Worauf kommt es nun an?
Felbermayr: Entscheidend wird, wie sich
China verhält. Präsident Xi Jinping könn­
te die russische Wirtschaft mit Kapital,
Warenlieferungen und Know­how unter­
stützen, wenn der Westen das Land
boykottiert. Im günstigsten Fall gelingt es
uns, Chinas Führung von Sanktionen zu
überzeugen. Wenn China und Russland
aber noch enger zusammenrücken, haben
wir schlechte Karten.
Interview: Michael Brächer n

Ökonom
Felbermayr
Steffen Roth

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