Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

82 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

»Früher war hier verdammt viel
los, die Kinder rauften sich auf den
Straßen. Aus jedem Schulfest wurde
ein Dorffest«, sagt eine der Frauen.
Bevor der Unterricht beginnt, sitzen
die Seniorinnen auf dem beheizten
Boden ihres Klassenzimmers und es-
sen Reiskuchen. Die Frau, die erzählt,
ist 88 Jahre alt. Ihre eigenen sechs
Kinder sind hier zur Schule gegangen.
Damals habe es so viele Schüler ge-
geben, dass in zwei Schichten unter-
richtet worden sei, morgens und
abends.
1960 bekamen Südkoreanerinnen
durchschnittlich sechs Kinder. Die
Regierung versuchte gegenzusteuern:
In den Siebzigerjahren riet das Ge-
sundheitsministerium Männern und
Frauen zur Sterilisation. Einige An-
zeigen mahnten später: »Zwei Kinder
sind zu viel.« Die Geburtenrate fiel,
je mehr sich der arme Agrarstaat Süd-
korea zur fortschrittlichen Volkswirt-
schaft wandelte. Diese Entwicklung
erlebten viele Industrieländer – je
wohlhabender ein Land, desto weni-
ger Babys wurden geboren. Wohl nir-
gends vollzog sich dieser Wandel so
schnell und radikal wie in Südkorea.
2018 fiel die Geburtenrate erstmals
auf unter ein Kind pro Frau.
In Bugil sahen die alten Frauen,
wie ihr Dorf immer weiter schrumpfte.
Ihre eigenen Kinder sind längst weg-

gezogen. Auch Chois Tochter lebt in
der Hauptstadt Seoul, und sie schickt
ihr manchmal Pakete mit dem natio-
nalen Lieblingsgemüse Kimchi. Wenn
die Rentnerinnen sich morgens in der
Schule treffen, hilft ihnen das auch
gegen die Einsamkeit. »Es ist leer hier,
überall leer«, sagt eine 87-jährige Mit-
schülerin. »Ich vermisse den Trubel
so sehr, dass es wehtut.«
Die ersten sechs Jahrgangsstufen
der Grundschule Bugil besuchen heu-
te 18 Kinder. In einem Raum sitzt um
10.30 Uhr ein Achtjähriger allein vor
seiner Lehrerin und lernt Mathema-
tik. Er ist das einzige Kind in der
zweiten Klasse. Sein gesamtes erstes
Schuljahr war der Junge allein. Im-
merhin wird er nun in Musik, Kunst
und Sport zusammen mit den Erst-
klässlern unterrichtet. Jetzt blühe er
auf, erzählt die Lehrerin.
Trotz der Leere wirkt die Grund-
schule freundlich und gut gepflegt.
Über den Hof staksen Hühner, Lese-
ecken schmücken die Klassenzimmer.
Direktor Shin Hyun kennt jedes Kind
beim Namen. Zum Gespräch reicht
er gebackene Süßkartoffeln, die er in
seinem Garten angebaut hat. Es ist
seine letzte Station vor der Pensio-
nierung, der Niedergang stimmt ihn
traurig. »Wenn immer mehr Familien
fortziehen, muss vielleicht auch unse-
re Schule schließen«, sagt Shin.
Innerhalb weniger Jahrzehnte ist
Südkorea zur digitalisierten Volks-
wirtschaft aufgestiegen, ermöglicht
wurde das durch viel Fleiß und Ehr-
geiz, oft auch durch einen harten
Wettbewerb. Doch wirtschaftliche
Entwicklung und politische Öffnung
zogen keinen ähnlich rasanten Werte-
wandel nach sich. Die Gesellschaft
blieb in vielen Bereichen patriarchal
und konservativ.
Jüngere Menschen wachsen noch
immer mit den hohen Erwartungen
ihrer Eltern und Großeltern auf. Der
ideale Lebensweg sieht vor, einen ex-
zellenten Schulabschluss zu schaffen,
später ein gutes Einkommen zu si-
chern, früh zu heiraten und eine Fa-
milie zu gründen.
Doch viele sehen sich kaum in der
Lage, diese Ansprüche zu erfüllen.
Die Lebenskosten in der Hauptstadt
Seoul, wo es die meisten Jobs gibt,
sind hoch. Paare schieben die Ehe auf.
Wenn sie heiraten, dann später im
Leben – und viele entscheiden sich
gegen Kinder.
Junge Frauen empfinden die tra-
ditionelle Rollenverteilung im Land
zudem als abschreckend. Wenn Süd-
koreanerinnen Mutter werden, über-
nehmen sie den größten Teil der
Kindererziehung und der Arbeit im

D


ie Morgensonne erleuchtet die
Berge hinter dem Dorf Bugil,
als der Schulbus bei laufendem
Motor auf die erste Schülerin wartet.
Um 8.28 Uhr kommt Choi Won-sim
leicht gebeugt durch die Gassen. Sie
ist 73 Jahre alt. Gegen den eisigen
Wind schützt eine Daunenjacke, ihr
Haar trägt sie in einer kurzen Dauer-
welle. »Mütterchen, wie geht es Ih-
nen?«, grüßt die Busbegleiterin und
hilft Choi die Stufen hoch.
Choi hat ihr ganzes Leben in Bugil
verbracht, einem Flecken am süd-
westlichen Zipfel Südkoreas. »Ende
des Landes« wird diese Gegend mit
ihrer rauen Küste genannt. Der Schul-
bus fährt vorbei an den Reisfeldern,
die sich in blassem Gelb und hellem
Braun bis zum Horizont erstrecken.
Daneben stehen niedrige Häuser mit
geschwungenen Dächern.
Als Choi aufwuchs, war Südkorea
ein vom Krieg verwüstetes Land. Als
Mädchen musste sie arbeiten, damit
ihre Familie überleben konnte, für die
Schule blieb keine Zeit. Erst jetzt
lernt sie Lesen und Schreiben. Mit
drei anderen älteren Damen besucht
Choi die dritte Klasse der Grundschu-
le von Bugil. Ihren Namen kann sie
schon schreiben. Mit zittrigen Fingern
zieht sie die Bogen und Linien der
koreanischen Buchstaben nach. Sie
habe eine schöne Handschrift, lobt
der Lehrer.
Ältere Frauen wie Choi bewahren
vielerorts die Schulen vor der Schlie-
ßung. Es fehlt an Kindern in Süd-
korea. Die Geburtenrate sinkt seit
Langem, sie ist zuletzt auf ein neues
Rekordtief gefallen: 0,84 Kinder be-
kommt jede Südkoreanerin durch-
schnittlich im Laufe ihres Lebens.
Nirgends auf der Welt ist die Frucht-
barkeitsrate niedriger. Zugleich
werden die Menschen immer älter.
In Bugil ist zu spüren, was das be-
deutet.
Der Schulbus holt auf der Tour an
diesem Morgen nur drei Schüler ab,
zwei von ihnen sind Rentnerinnen.
Er hätte Platz für 18.

»Mit umge-
rechnet
145 Milliarden
Euro will die
Taskforce des
Präsidenten
die Geburten-
raten
steigern.«

Land ohne Kinder


DEMOGRAFIE Südkorea hat die niedrigste Geburtenrate der Welt.
Viele Frauen wollen sich nicht zwischen Familie und
Job aufreiben. Wie lebt ein Volk, dem der Nachwuchs fehlt?

Rentner-Schülerinnen
in der Grundschule
von Bugil: »Ich
vermisse den Trubel
so sehr, dass es
wehtut«

Jun Michael Park / DER SPIEGEL

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