Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 83

Haushalt, und die Erwartungen älterer Fami-
lienmitglieder an sie sind immens.
Ein Satz fällt in Gesprächen mit Südkorea-
nerinnen immer wieder: »Ein Baby zu be-
kommen würde bedeuten, dass ich mich selbst
aufgeben muss.« Viele Frauen sehen sich oft
nur zwischen zwei Extremen: ein Kind zu
bekommen und sich für die Familie aufzu-
opfern – oder sich beruflich zu verwirklichen
und ein komfortables Leben zu führen. Beides
glauben sie nicht miteinander versöhnen zu
können.
»Vielleicht gibt es einen Mittelweg, aber
ich kenne ihn nicht«, sagt Lee Ga-hee. Lee ist
35 Jahre alt und Führungskraft bei einem Rei-
seunternehmen, an ihrem freien Tag ist sie
leicht geschminkt und trägt einen hellbraunen
Wollpullover. Sie trinkt Zitronentee und er-
innert sich an einen Anruf vom Vorabend.
Ihre Tante war am Telefon: »Wollt ihr nicht
doch ein Baby? Das wäre so süß!« Lee lächelt
müde, die Fragen haben nach ihrer Hochzeit
vor vier Jahren angefangen. Sie fühlt sich, als
ob sie eine Checkliste der Familie abarbeitet.
Herausragende Noten in der Schule? Check.
Ein Platz an einer Top-Universität? Check.
Ein guter Job? Check. Jetzt fehlt noch ein
Baby. Ihr Vater hält sie für selbstsüchtig. Aber
Lee hat sich entschieden: Sie ist glücklich
ohne Kind.
Sie hat erlebt, was mit Schwangeren am
Arbeitsplatz geschieht: Sie werden zum Pro-
blem. Kollegen beschwerten sich, dass die

Arbeit der Schwangeren an ihnen hängen
bleibe, erzählt Lee. Vorgesetzte beklagten
den Ausfall. »Viele Frauen kommen nach
der Geburt ihres Kindes im Job nicht mehr
voran«, sagt sie. »Oder sie kehren gar nicht
erst zurück.«
In keinem OECD-Land sind berufstätige
Frauen ihren männlichen Kollegen gegenüber
so benachteiligt wie in Südkorea: Hier gibt es
die mit Abstand größten Gehaltsunterschiede
zwischen Frauen und Männern. Dem briti-
schen »Economist« zufolge hat Südkorea
unter 29 Ländern die schlechtesten Bedingun-
gen für arbeitende Frauen. Für Mütter ist die
Lage besonders schwierig, und Lee hat nicht
das Gefühl, dass die Politik das Problem er-
kannt hat.
Die nunmehr vierte Taskforce unter Prä-
sident Moon Jae-in will in den kommenden
vier Jahren die Geburtenrate steigern. Dafür
investiert sie umgerechnet 145 Milliarden
Euro. Kindergärten und Schulbetreuung sol-
len ausgebaut werden. Mütter und Väter kön-
nen bis zu 11 000 Euro erhalten, wenn sie
gemeinsam drei Monate Elternzeit nehmen.
»Das ist, als ob man Wasser in einen löch-
rigen Eimer füllt«, sagt Lee. »Ich wäre Ziel-
gruppe dieser Familienpolitik, aber ich fühle
mich nicht angesprochen. Wir brauchten et-
was, was uns wirklich hilft.«
Akzeptable Arbeitsbedingungen für Müt-
ter zum Beispiel. Doch den hervorragend aus-
gebildeten Südkoreanerinnen bleibe oft nur

die Entscheidung, in Vollzeit zurückzukehren
oder ihren Job aufzugeben, sagt Lee. Auf die
Frage nach Teilzeitarbeit für Mütter lacht sie.
»Teilzeit bedeutet in Südkorea, einen Min-
destlohnjob zu machen. Als Kassiererin im
Supermarkt zum Beispiel.«
Lee beschreibt eine Gesellschaft, die es
kaum schafft, ein lebenswertes Umfeld für El-
tern zu gestalten. Sie meint damit nicht nur die
Unternehmenskultur – sondern auch die un-
geheuren Erwartungen an Mütter und Kinder.
Selten wird das so deutlich wie am Tag des
südkoreanischen Abiturs, Suneung genannt,
der im vergangenen Jahr auf den 18. No-
vember fiel. Es ist der wichtigste und wohl
schlimmste Moment im Leben jeden südko-
reanischen Schülers. Er entscheidet über den
weiteren Lebensweg: Ziel ist es, auf eine der
drei besten Universitäten des Landes zu kom-
men. Das sichert einen guten Job in einer
großen Firma und verbessert sogar die Hei-
ratsaussichten.
Das ganze Land hält an diesem Tag inne.
Angestellte kommen später zur Arbeit, um
die Straßen freizuhalten. Polizisten eskortie-
ren Schüler, die spät dran sind. Wenn der Eng-
lisch-Hörtest abgehalten wird, dürfen keine
Flugzeuge starten und landen.
Als am 18. November der internationale
Airport den Flugverkehr stoppte, lud der Pas-
tor der Presbyterianischen Kirche des Daechi-
Viertels in Seoul zum »Suneung-Gottes-
dienst«. Drei Dutzend Mütter und Großmüt-

Barkeeperin Lee in Seoul: »Wir können uns ein Kind einfach nicht leisten«

Jun Michael Park / DER SPIEGEL

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