Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

84 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

ter harrten mit versteinerter Miene in den
Bänken aus. Das Daechi-Viertel ist bekannt
für anspruchsvolle Schulen und ehrgeizige
Eltern. Direkt neben der Kirche bietet das
Institut »Brainvalley« Nachhilfekurse an.
Ohne zusätzliche Lerneinheiten, glauben
viele Eltern, könnten ihre Kinder keine Top-
noten im »Suneung«-Examen erreichen.
Schülerinnen und Schüler büffeln daher bis
zehn Uhr abends Mathematik oder Englisch
in Nachhilfeakademien. Das kann Eltern
umgerechnet 500 Euro im Monat kosten.
Oft lernen schon Dreijährige nachmittags
Englisch.
»Ich hasse diesen Wettbewerb«, sagt die
37 Jahre alte Lee Chan-kyung, die eine Bar
in Seoul managt. Hinter ihr wirft die Disco-
kugel Lichtflecken an die Decke, sie trägt eine
neongelbe Mütze über ihren blond gefärbten
Haaren. Sie beschreibt sich als »nicht typi-
sche« Koreanerin. »Ich würde mein Kind
nicht diesem Druck aussetzen wollen«, sagt
sie. Aber sich dem Bildungsfieber Südkoreas
zu entziehen sei schwer.
Rund ein Drittel der verheirateten Süd-
koreanerinnen gibt an, der Hauptgrund gegen
ein Baby seien die hohen Kosten für Bildung.
Lee sagt: »Du musst einen guten Kindergarten
und eine gute Schule finden. Und dafür musst
du in die guten Viertel ziehen, die teuer sind.«
Auch für sie und ihren Ehemann sprechen
vor allem finanzielle Erwägungen gegen ein
Kind. Die beiden können nur ein Apartment
in einer Satellitenstadt von Seoul bezahlen,
zwei Zimmer, 75 Quadratmeter, eine Auto-
stunde von ihrer Bar entfernt. Lee sagt: »Wir
können uns ein Kind einfach nicht leisten.«
Die Pandemie hat sie darin bestätigt. Im-
mer wieder mussten sie die Bar in der Corona-
krise schließen. Ihr Mann hat früher Musik
produziert, heute liefert er auf dem Motor-
roller Essen aus. Manchmal breche es ihr das
Herz, wenn er von den Kindern ihrer Freun-
de schwärme, sagt Lee. »Ich würde vielleicht

über ein Baby nachdenken, wenn ich nicht in
Südkorea leben würde. Aber damit es eine
glückliche Kindheit hat, müsste ich meine
Heimat verlassen.«
Die politische Klasse, deren typische Ver-
treter meist älter und männlich sind, scheint
keine Antworten auf die Sorgen von jungen
Paaren zu finden. Die Herausforderungen für
den nächsten Präsidenten, der am 9. März
gewählt wird, sind gewaltig: Die Ausgaben
für das Gesundheitssystem werden steigen,
je mehr Menschen altern, ebenso die Belas-
tung durch Renten. Auf dem Arbeitsmarkt
wird es an Fachkräften fehlen.
Die größte Oppositionspartei, die konser-
vative People Power Party, will zwar stärker
die 20- bis 40-Jährigen ansprechen. Das liegt
vor allem an ihrem Vorsitzenden Lee Jun-
seok, der mit seinen 36 Jahren eine Ausnahme-
erscheinung im betagten Polit-Establishment
ist. Aber ihm geht es vor allem um frustrierte
junge Männer, die sich diskriminiert fühlen.
»Wer besondere Regeln für Frauen macht,
beraubt Männer ihrer Rechte«, sagt Lee dem
SPIEGEL in seinem Büro. Er hat dazu beige-
tragen, dass Feminismus in diesem Wahl-

kampf zum Schimpfwort geworden ist. Der
Geschlechterkampf behindert eine sachliche
Debatte über die niedrige Geburtenrate.
Ausgerechnet die Region um das Dorf Bu-
gil, in dem die alten Damen die leere Schule
besuchen, schien einige Zeit vieles richtig ge-
macht zu haben. Die Bezirksregierung lockte
Paare mit üppigen Kinderboni und verschickte
Geschenkkörbe mit Babykleidung und ab-
gepacktem Fleisch. Die Geburtenrate in der
Region stieg einige Jahre lang, doch seit 2019
sinkt sie wieder.
Das beweise, sagt Shin Pyong-ho, dass
Geld allein die Probleme nicht löse. Er ist
Gemeindevorsteher in Bugil, 61 Jahre alt. Er
ist vor acht Jahren hergezogen. Nach dem
Tod seines Sohnes war Bugil »schön und fried-
lich«, es wurde für ihn ein Ort der Zuflucht.
Die Leute schenkten ihm selbst angebautes
Gemüse. Shin wollte nicht, dass Bugil ver-
schwindet. So fasste er einen Plan.
Er habe überlegt, sagt Shin, wonach sich
junge Paare sehnten. Sie sollen hier finden,
was ihnen woanders fehlt: guten und günsti-
gen Wohnraum, ein sicheres Einkommen und
die Gewissheit, dass ihre Kinder gut versorgt
sind.
Shin schiebt in seinem Containerbüro in
der Nähe des Marktplatzes von Bugil nach
und nach Papiere über den Tisch, die zeigen,
wie aus seiner Idee Realität wurde. Eine Liste
leer stehender Häuser, eine Tabelle mit den
offenen Stellen in der Region. Shins Projekt
wurde zum unbezahlten Vollzeitjob.
Mitte November kam die Zusage des Be-
zirksamts, das Projekt mit umgerechnet rund
230 000 Euro zu unterstützen. Mit Erlaubnis
der Besitzer ließen Shin und seine Mitstreiter
15 Häuser renovieren. Sie starteten einen Auf-
ruf an Familien in ganz Südkorea: Sie würden
fast mietfrei in Bugil wohnen können und bei
der Jobsuche unterstützt werden. An den
Schulen würde es eine ganztägige Betreuung
geben.
Viele hätten ihm gesagt, es sei unmöglich,
das Dorf wiederzubeleben, sagt Shin. Einige
hätten dafür plädiert, die Grundschule abzu-
reißen und ein Altersheim zu bauen. Aber
irgendwann fragten Dorfbewohner: Wie kann
ich helfen?
Die Besitzerin eines Teehauses hofft, dass
sogar Menschen aus Seoul hier heimisch wer-
den, »denn glücklich wirken sie ja nicht«. Ihre
Töchter hätten nachmittags nie eine Nach-
hilfeakademie besucht, sie waren schwim-
men, Ski fahren oder reiten, »und eine Uni-
versität haben sie ja trotzdem besucht«.
198 Familien aus ganz Südkorea riefen
bei Shin an. »Ist das alles echt?«, fragten
einige. Am Ende wählten Shin und sein Team
20 Familien aus. Sie ziehen derzeit in ihre
neuen Häuser.
»Wir versuchen, eine kleine Utopie auf
dem Land zu schaffen«, sagt er. Der Trubel
soll ins Dorf zurüc kkehren. So wie es die
alten Damen in der dritten Klasse noch von
früher kennen.

Erst- und Zweitklässler in Bugil: Ein Schüler war sein ganzes erstes Schuljahr lang allein

Weniger als ein Kind


Entwicklungder Fertilitätsrate in Südkorea

1970 1980 1990 2000 2010 2020

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SQuellen: OECD,StatisticsKorea

4,5

0,8

Katharina Graça Peters n

Jun Michael Park / DER SPIEGEL

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