Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
SPORT

Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 87

K


urz vor Weihnachten zog es
Christian Streich wieder in
einen seiner Lieblingsbuch­
läden in Freiburgs Innenstadt. Er gehe
dort gern hin, weil er sich mit der Be­
sitzerin im heimischen Dialekt unter­
halten könne, erzählt er. Alemannisch
ist auch in Freiburg selten geworden.
Dieses Mal hatte er im Schaufenster
ein Buch über den Aufbruch der USA
nach dem Bürgerkrieg im 19. Jahr­
hundert entdeckt. Streich, der Ge­
schichte studiert hat, überlegte nicht
lange und schlug zu. Anschließend
plauderte er noch eine Weile mit den
Kunden im Laden.
Es gibt etliche solche Anekdoten
über Christian Streich, der sich auch
als Fußballtrainer, vor allem aber als
Freiburger sieht. Viele Einheimische
können von einer Begegnung mit dem
gesprächigen Streich berichten, der
keine Scheu davor hat, der Öffentlich­
keit mitzuteilen, was er von Corona­
leugnern und Impfgegnern hält. Ein
Reporter der »New York Times« be­
zeichnete ihn als »Philosoph aus dem
Schwarzwald«.
Streich, 56, ein Metzgersohn, der
seine Eltern nur hart arbeitend kann­
te, ist der Gegenentwurf zum pro­
minenten Fußballlehrer, der abge­
schottet vom Rest der Gesellschaft in
einer Wohlstandsblase lebt. Wenn er
in Pressekonferenzen die Gehalts­
exzesse im Profisport geißelt, dann
spricht aus ihm eine ernst gemeinte
Vernunft, obwohl ihn das Geschäft
selbst zu einem wohlhabenden Mann
gemacht hat.
Streich kam 1995 zum SC Frei­
burg, arbeitete zunächst als Jugend­
coach, seit mehr als zehn Jahren ist
er Cheftrainer und das Gesicht des
Klubs. Mit Akribie und Fleiß hat er
einen versierten Kader geformt, der
Tempofußball und eine kompakte
Abwehr vereint. Im DFB­Pokal steht
der SC im Viertelfinale. Mit einem
Sieg an diesem Samstag gegen Hertha
BSC käme der Klub der Champions
League immer näher. Eine Erfolgs­
geschichte.
Streich kann mit Lobgesängen auf
den Freiburger Aufschwung wenig
anfangen. Ja, man stehe in der Tabel­
le gut da, »aber das ist mir zu fragil«,
sagt er in einem Videotelefonat. Er
wisse, wie schnell sich das drehen
könne. 2015 stieg er aus der Bundes­
liga ab. Tagelang hätten ihn danach
Trauer und Wut beherrscht. Das
wolle er nicht noch einmal erleben.
»Wir müssen malochen.«
Der Klub aus Südbaden hat einen
eigenen Weg eingeschlagen. Statt teu­
rer Zukäufe versucht der SC, mit guter
Nachwuchsarbeit, geduldiger Men­

schenführung und kluger Transfer­
politik ökonomisch zu wirtschaften.
Nur kann ein solcher Spagat zwi­
schen Profitabilität und Nachhaltig­
keit dauerhaft gelingen? Oder muss
sich Freiburg irgendwann den Ge­
setzmäßigkeiten der Fußballbranche
beugen?
Mitte Dezember führt Sportdirek­
tor Klemens Hartenbach, 57, durch
die kargen Büroräume im neuen Sta­
dion am Freiburger Flugplatz. »Der
Kampf gegen das Establishment ist
schon ein bisschen in uns drin«, sagt
er, »wir wollen nicht jede Schweine­
rei  mitmachen, die in der Branche
üblich ist.« Er zeigt auf die Plätze, wo
er und die Mitarbeiter der Scouting­
Abteilung demnächst sitzen sollen.
Einige Wände, die man eingezogen
hat, müssen wieder raus, findet Har­
tenbach, dem der Austausch wichtig
ist. »Ich mag mehr die Teeküchen­
atmosphäre.«
Hartenbach war gerade zehn Tage
in Argentinien, um potenzielle Ver­
stärkungen für den Fußballkader zu
sichten. Entgegen gängiger Praxis
überlässt er das nicht seinen Mit­
arbeitern. Er müsse Spieler »spüren«,
sagt er. Videos und Daten, auf deren
Grundlage viele Transfers in der Bun­
desliga basieren, würden »nur die
halbe Wahrheit« erzählen. Er wolle
sehen, ob einer nach Fehlern lange
hadert. Ob er Mannschaftskollegen
anfeuert. Ob er ein Teamspieler ist.
Viele der Kandidaten würden die
Nase rümpfen, wenn er ihnen erzäh­
le, dass es in Freiburg kaum mehr als
Fußball gebe, keine große Klubszene,
keine Schickeria. »Früher haben uns
neun von zehn Spielern abgesagt«,
sagt Har tenbach. Immerhin: »Heute
ist es schon fifty­fifty.«

Martin Spanring, 52, erinnert
sich noch, wie sich der Wechsel von
Schalke nach Freiburg Anfang der
Neunzigerjahre anfühlte. In Gelsen­
kirchen galt er als Partykönig, die
Fußballer dort fuhren Porsche oder
Mercedes, Manager Rudi Assauer
paffte Zigarren.
Als er in Freiburg ankam, habe er
sich die Augen gerieben. Die Spieler
kamen mit der Straßenbahn oder dem
Fahrrad zum Training, Trainer Volker
Finke drehte seine Zigaretten selbst.
»Der ganze Klub fühlte sich an wie
eine Klassenfahrt«, erzählt der ehe­
malige Fußballer Spanring. »Aber er
hat mich wieder geradegerückt.« Der
frühere Präsident Achim Stocker rech­
nete Spielern schon mal vor, was eine
Fahrstuhlfahrt in der Geschäftsstelle
kostet. Er beschwerte sich über die
Anschaffung eines zweiten Faxgeräts.
Nur kein unnötiges Geld ausgeben.
Das sind Geschichten aus der Ver­
gangenheit, die Bodenständigkeit in­
des ist den Freiburgern geblieben –
auch wenn sich das glitzernde Fuß­
ballgeschäft überall in Europa immer
weiter von der Lebenswelt seiner
Fans abgekoppelt hat.
Wesentliche Anteile am Kicker­
idyll hat Streich. Den häufig erhobe­
nen Vorwurf, deutsche Mannschaften
seien zu wenig im internationalen
Wettbewerb vertreten, könne er nicht
nachvollziehen, sagt er. »Solange wir
den Fußball nicht den Investoren
überlassen wie in England, ist das für
mich völlig okay.«
Auch sein Sportclub hat sich an die
gestiegenen Ablösesummen und die
Spielergehälter anpassen müssen. Im
September 2020 bezahlte der Klub
rund 10 Millionen für den Franzosen
Baptiste Santamaria, den teuersten
Neuzugang in der Klubhistorie. Mo­
nate später musste man den Mittel­
feldspieler wieder ziehen lassen. Etwa
15 Millionen spülte das den Freibur­
gern in die Kasse.
Solche Erfahrungen haben die SC­
Verantwortlichen vorsichtiger ge­
macht. Am liebsten kaufen sie günstig
ein und teuer weiter, wie zuletzt die
jungen Nationalspieler Luca Wald­
schmidt und Robin Koch. Nicht selten
durchforstet Hartenbach den Spieler­
markt bis in die untersten Ligen. Über
die Jahre hat er ein Gespür für Talen­
te entwickelt, die andere niemals für
bundesligatauglich halten würden.
Spieler wie Lucas Höler, 27.
Der Mann mit der blonden Löwen­
mähne kam 2018 von Zweitligist
Sandhausen nach Freiburg. Der Klub
habe einen Stürmer gesucht, »der in
die Spitze stößt und die Abwehr
nervt«, erinnert sich Hartenbach. Hö­

Stürmer Höler (l.),
Team kollegen:
Der Champions
League immer näher

Stabiler Klub


Umsatz des
Bundesligisten
SC Freiburg,
in Millionen Euro

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Sven Simon / ullstein bild
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