Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
SPORT

88 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

lers Statistiken seien nicht optimal gewesen,
»aber Lucas verfügt über diesen inneren An-
trieb, alles auf dem Platz zu lassen«, sagt
Hartenbach.
Trotz seiner Willensstärke hatte es Höler
anfangs schwer. Fans warfen ihm in sozialen
Medien vor, technisch limitiert zu sein, be-
schimpften ihn auf üble Weise. Das habe ihn
sehr getroffen, sagt Höler. Doch den Klub zu
verlassen sei für ihn nicht infrage gekommen.
Auf Anraten Streichs hielt sich Höler von
Kanälen wie Facebook fern.
Der Trainer habe ihn wieder aufgebaut
und ihn im Training permanent mit Anwei-
sungen gegängelt. »Erst dachte ich, der hat
mich auf dem Kieker«, erzählt Höler. »Dabei
wollte er mich nur besser machen.« Über Mo-
nate verbrachte Höler viel Zeit auf der Ersatz-
bank, bis er verstand, Räume zu öffnen, das
Spieltempo zu kontrollieren. Dann holte ihn
Streich in die Startelf, sein Marktwert ist in
vier Jahren von 900 000 Euro auf 6,5 Millio-
nen Euro geklettert. »Lucas hilft uns brutal«,
sagt Streich.
In den vergangenen zehn Jahren hat der
Klub gut eine Handvoll deutsche National-
spieler hervorgebracht. In der Bundesliga hat
sich herumgesprochen, dass man in Freiburg
Zeit bekommt, sich zu entwickeln. Die 16 In-
ternatsplätze in der 2001 eröffneten Fußball-
schule sind begehrt. Zu Saisonbeginn gab der
SC gleich sechs Jungs aus der Drittligamann-
schaft eine Chance im Profikader. Wohl wis-
send, dass sich nur wenige von ihnen im Bun-
desligateam durchsetzen werden.
»Das ist auch ein Jonglieren mit Gefühlen«,
sagt Sportdirektor Hartenbach über den Um-
gang mit Nachwuchsspielern. Häufig folge der
Freude über die Beförderung Frust, weil die
Jungen lange nicht zum Einsatz kämen. »Die
wenigsten sind mit Geduld gesegnet.« Er müs-
se oft beschwichtigen. Nicht selten schalteten
sich Berater ein, die den Talenten woanders
mehr Spielzeit und Geld versprächen.

Hartenbach hält es für unerträglich, wie
sich Klubs gegenseitig 13- bis 14-Jährige ab-
jagen, ihnen die große Karriere versprechen.
»Klar, wir sind auch keine Engel«, sagt er.
»Wir spielen das Spiel notgedrungen mit.
Aber nach unseren eigenen Regeln.« Zu
denen gehört, dass Jugendspieler in Freiburg
von der U16 bis zur U19 ein einheitliches
Taschengeld erhalten.
In Freiburg haben sie sich lange auf ihren
Fußballsachverstand und ihren moralischen
Kompass verlassen. Bis auch sie merkten, dass
Transfererlöse und der Ticketverkauf im nur
24 000 Plätze fassenden Dreisamstadion
nicht genügten, um stabil wirtschaften und in
der Bundesliga mithalten zu können.
Oliver Leki, 49, hat das geändert. Der
Finanzvorstand, der 2013 nach Freiburg kam,
ist der Mann für Visionen, aber auch für die
Kälte der Zahlen. Er trieb den Bau des neuen,
rund 76 Millionen Euro teuren Europa-Park
Stadions im Norden der Stadt voran. Es
gab nicht wenige Menschen im Umfeld des
Klubs, die in der neuen Arena das Ende des
ku scheligen Freiburger Wegs sahen. Ende
Oktober feierte der SC dort seinen ersten
Bundesligasieg.

Zu Beginn seines Stadionvorhabens sei er
auf Widerstand gestoßen, gibt Leki zu. Als er
eine Kapazität von 35 000 Zuschauern vor-
schlug, habe man ihn gefragt, ob er wahn-
sinnig sei. »Heute fragen sie mich, warum wir
nicht mehr Plätze haben.« Seit Leki die Fi-
nanzen regelt, ist die Zahl der Vereinsmitglie-
der von etwa 6000 auf über 30 000 gewach-
sen. Trotz Corona erzielte der Klub im ab-
gelaufenen Geschäftsjahr mehr Umsatz als je
zuvor, rund 110 Millionen Euro. Nach eigenen
Angaben verfügt der SC über ein Eigenkapi-
tal von 93 Millionen Euro.
Klar gebe es bisweilen unterschiedliche
Meinungen auf Vorstandsebene, sagt Leki,
»aber in der Grundhaltung sind wir auf einer
Linie«. Das Harmoniebedürfnis im Verein
gefällt nicht jedem. Es fehle eine gesunde
Streitkultur, heißt es dann.
Tatsächlich zeigen sich die Verantwort-
lichen auf Mitgliederversammlungen selbst
bei kritischen Fragen wenig konfliktfreudig.
Auch in den sozialen Medien findet kein
Dialog zwischen Klub und Fans statt – eine
bewusst gewählte Strategie, sagen Kenner des
Vereins. Trainer Streich verzichtet ganz auf
soziale Medien. Die würden nur zur Spaltung
der Gesellschaft beitragen und ihn vom Ar-
beiten ablenken, sagt er. Überhaupt störe ihn
der Informationsüberfluss der heutigen Zeit.
»Hätte ich eine Fernbedienung, würde ich
jeden Bildschirm im Flugzeug oder in der
Bahn ausknipsen.«
Wohl auch deshalb kommt für Streich kein
anderer Arbeitsplatz als die Oase Freiburg
infrage, wo er mit dem Fahrrad zum Stadion
fahren und von all dem nervigen Grund-
rauschen der Branche abschalten kann. Auch
wenn die »Schüssel«, wie er das neue Stadion
nennt, viel weiter von zu Hause entfernt ist
als die alte Spielstätte.
Heimeligkeit schafft Nähe, die auch an-
strengend sein kann. Wegen ihrer Verbun-
denheit zur Stadt und zu den Menschen neh-
men Streich und Hartenbach jeden Miss-
erfolg sehr persönlich. Er spüre da einen
zusätzlichen Erfolgsdruck, sagt Hartenbach.
Er überlege sich etwa genau, ob er zum Spiel-
tag am Samstagmorgen auf den Wochen-
markt gehe, weil er glaubt, dass die Leute
sich fragen könnten, ob er nichts Besseres
zu tun habe. »Ist natürlich Quatsch«, sagt
Hartenbach, »aber so solche Gedanken ma-
che ich mir.«
Trainer Streich geht zum Abschalten gern
in den Wald. Die Natur, die Berge, die Ruhe –
all das helfe ihm, den Kopf vom Fußball frei-
zubekommen. »Ich bin ja ein bisschen ener-
getisch.«
Wie lange er den Bundesligazirkus noch
mitmacht? Das hänge davon ab, wie lange
er »genügend Energie« spüre, Spieler besser
zu machen. Sollte er den Klub irgendwann
verlassen, würde er das gern vor seinen
Vertrauten tun, sagt Streich. »Dann können
sie in Ruhe einen Trainer suchen, der zum
Verein passt.«
Matthias Fiedler n

Profi Vincenzo Grifo im neuen Freiburger Stadion: Tempofußball und kompakte Abwehr

Sterile Stadionatmosphäre
SPIEGEL-Redakteur Matthias Fiedler reiste
für mehrere Tage nach Freiburg, wo man
ihm das Klubgelände, die Fußballschule
und die Trainingsplätze zeigte. Das Spiel im
neuen Stadion im Dezember gegen Hoffen-
heim musste aus Pandemiegründen vor
wenigen Hundert Zuschauern stattfinden.
»Das fühlte sich sehr steril an«, sagt Fiedler.
Auch Trainer Streich war wegen einiger
Coronafälle im Team nur über Videotelefo-
nie erreichbar. Danach gefragt, wie viele
Bücher er zu Hause im Regal stehen habe,
antwortete Streich: »Nicht viele. Die besten
verschenke ich.«

Alexander Hassenstein / Getty Images

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