Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 9

K


rieg stellt man sich als etwas Lau-
tes vor: Man erwartet Einschläge,
Bomben, fliehende Menschen,
Panik. Als der Krieg am Donners-
tag früh nach Kiew kommt, ist er
zunächst vor allem eins: leise. Die
Straßen der Innenstadt sind leer, kaum ein Auto
ist unterwegs. Die wenigen Passanten huschen
lautlos vorbei. Die Plätze, auf denen sonst Men-
schen in der Morgensonne Kaffee trinken, sind
verwaist, der Stadtlärm ist verstummt. Es ist
die Ruhe vor dem Sturm der Hauptstadt.
Von einem Hochhausdach in der Kiewer
Innenstadt ist in weiter Ferne eine Rauch-

säule zu sehen, auf Twitter zeigen Videos, wie
russische Hubschrauber einen Flughafen nahe
der Stadt angreifen. Schließlich folgen die
Berichte, dass russische Truppen sich in einer
Zangenbewegung auf Kiew zubewegen sollen.
Am Nachmittag ertönen in der Stadt die
Luftsirenen. Der Krieg kommt Stunde für
Stunde näher.
Kaum jemand in der Ukraine hat einen
Angriff auf die Hauptstadt wirklich für mög-
lich gehalten, obwohl die US-Geheimdienste
seit Wochen davor gewarnt haben. Viele Be-
wohner haben weder Vorräte aufgestockt
noch sich um sichere Schutzräume geküm-
mert. Was tut man in einem solchen Moment:
Bleiben? Fliehen? Oder kämpfen?
Stadtauswärts bilden sich viele Kilometer
lange Staus, am Bahnhof drängen sich Men-
schenmassen, viele Kiewer wollen sich in
Richtung Westen in Sicherheit bringen. Der
öffentliche Verkehr, so hat es der Bürger-
meister Vitali Klitschko angeordnet, ist an
diesem Tag kostenfrei – aber kaum jemand
will damit fahren. Die Busse sind leer, mit
der Metro nur jene unterwegs, die sich unter
der Erde in Sicherheit bringen wollen: Die
Stationen dienen als Schutzbunker. Ober-
halb, auf den Straßen Kiews, wird es mit je-
der Stunde stiller. Hotels stellen ihren Dienst
ein, Bankautomaten, vor denen sich am Mor-
gen lange Schlangen gebildet hatten, spucken
kein Geld mehr aus. Wer noch nicht die Stadt
verlassen hat, wartet zu Hause auf das
Schlimmste.
Nastja und Ljowa gehören zu den wenigen
Menschen, die in einem Café sitzen, beide
hängen an ihren Telefonen, sie haben Ver-
wandte, die nahe der Front leben. Nastjas
Familie wohnt in Charkiw, Ljowa stammt aus
der Hafenstadt Mykolakjiw – an beiden Orten
hält die ukrainische Armee große Stützpunk-
te. Sie erzählen, dass ihre Eltern und Freunde
in Kellern sitzen und den Einschlägen der
Raketen lauschen, die auf die Stellungen der
ukrainischen Armee niederregnen.
Nastja sagt, sie habe in der Nacht zum
Donnerstag sogar noch als Barkeeperin ge-
arbeitet; Kiew war europaweit berühmt für
sein Nachtleben. Es sei voll gewesen, sagt
Nastja, sie habe Drinks serviert und Gäste
bedient, so wie immer. Erst als die 24-Jährige
im Morgengrauen nach Hause ging, sah sie
die Nachrichten: Angriffe auf die gesamte
Ukraine. Sie ist den Tränen nahe, als sie da-
rüber redet, so wie viele Menschen an diesem
Tag in Kiew. In jedem Satz schwingt Angst
mit. »Von wem werden wir ab morgen re-
giert?«, fragt ein Passant, der gerade sein Auto
vollpackt. »Man weiß es nicht.«
An diesem 24. Februar 2022, dem Beginn
der russischen Militärinvasion der Ukraine,
erlebt Europa den vielleicht schwärzesten
Tag für seine Sicherheit seit dem Zweiten
Weltkrieg. Es ist ein Tag, der in die Geschich-
te eingehen wird, er markiert eine düstere
Zeitenwende. Eine der am stärksten hoch-
gerüsteten Militärmaschinerien der Geschich-
te, die Atommacht Russland, beginnt einen

Angriffskrieg gegen ein souveränes europäi-
sches Land.
Was die Menschen in der Ukraine und in
weiten Teilen Europas an diesem Donnerstag
verbindet, ist die Ungläubigkeit. Das Unvor-
stellbare ist geschehen: Wladimir Putin hat
eine Invasion gegen die Ukraine in Gang ge-
setzt, mit geschätzt 200 000 Soldaten, mit
Boden- und Luftlandetruppen, mit Panzern
und Kampfhubschraubern, mit Marschflug-
körpern und Schiffen, mit dem ganzen kon-
ventionellen Arsenal der russischen Armee.
Das Szenario, vor dem amerikanische Nach-
richtendienste seit Oktober warnen, ist tat-
sächlich eingetreten. Und das ist in der Nach-
betrachtung vielleicht das Erstaunlichste: Die
Geheimdienste haben das meiste, was Wla-
dimir Putin schließlich getan hat, in vielen
Details vorhergesehen, sie haben die Pläne
seit Wochen und Monaten immer wieder neu
offengelegt. US-Präsident Joe Biden und
Außenminister Antony Blinken präsentierten
Putins Pläne in Live-Pressekonferenzen und
vor dem Uno-Sicherheitsrat. Sie hofften, ihn
dadurch noch abzuhalten. Vergebens. Die
USA wirkten in dieser Krise allwissend und
ohnmächtig zugleich.
Wann Putin die endgültige Entscheidung
gefällt hat, in der Ukraine einzumarschieren,
ist unklar. Aber wie er diesen Einmarsch vor-
bereitet hat, ist in geradezu verwunderlicher
Weise öffentlich geworden. Wie Putin sein
Militär aufbaut, war sogar für einfache Inter-
netnutzer nachzuvollziehen. Satellitenbilder,
TikTok-Videos, vor allem aber die – in Euro-
pa lange skeptisch betrachteten – Warnungen
der US-Regierung und Leaks westlicher Ge-
heimdienste erweckten den Eindruck, man
könne der militärischen Invasion in Zeitlupe
zuschauen.
Was Putin vorbereitete, war für die ganze
Welt sichtbar. Und dennoch haben führende
Politiker und Journalisten in der Ukraine, in
Europa, in Russland bis zuletzt nicht für mög-
lich gehalten, dass er tatsächlich einen bruta-
len Krieg in Europa beginnen würde, um sei-
ne politischen Ziele zu erreichen.
Es gibt keine zweite Ebene im Krieg. Es
geht um nackte Gewalt. Putin ist die unab-
hängige, ins westliche Bündnis strebende
Ukraine ein Dorn im Auge, also zerstört er
sie mit militärischen Mitteln. Das macht
seine Entscheidung im 21. Jahrhundert so
ungeheuerlich. Sein Angriff ist ein Bruch des
Völkerrechts, eine Rückkehr zu einer krie-
gerischen Großmachtpolitik in Europa, wie
es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht
mehr gegeben hat.
Was das für die Menschen in der Ukraine
bedeutet, findet sich an diesem denkwürdigen
Tag in einem Tweet wieder. Eine Literatur-
dozentin der Nationalen Universität Kiew-
Mohyla-Akademie schrieb, alle Vorlesungen
seien abgesagt. »Meine Studenten melden
sich jetzt bei der Armee.« So klar, so brutal
einfach. Die beiden Sätze zeigen eine Er-
fahrung, die in der europäischen Hemi-
Alex Lourie / Redux / laif sphäre lange vergessen war: Man kann eines

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