Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
90 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

WISSEN


In einem Stausee gibt sich die mehr als 1000 Jahre alte Kirche von Sant Romà de Sau in Katalonien zu erkennen; seit der Flutung in den
Sechzigerjahren ragt bei maximaler Füllung die Spitze zwei Meter aus dem Wasser. An vielen Orten der Iberischen Halbinsel tauchen gerade Geister­
dörfer und Ruinen wieder auf, weil es seit Oktober so wenig Regen gegeben hat wie selten und die Wasserspeicher sich dramatisch leeren.

Unsere unverzichtbaren


Gefährten


ANALYSE Der Schwund der mikrobiellen Artenvielfalt
bedroht die Gesundheit des Menschen.

Billionen Bakterien trainieren unser Immunsystem, helfen bei
der Verdauung, wehren gefährliche Keime ab. Doch wir machen
unseren Besiedlern das Leben schwer. »Wir brauchen die ganze
Vielfalt an Mikroben. Aber viele von ihnen haben nie gelernt,
mit unserer modernen Lebensweise umzugehen«, sagt der Bio­
loge Thomas Bosch von der Universität Kiel. Etliche Bakterien­
arten gingen in den vergangenen Jahrzehnten verloren.
Mit anderen Forschenden will Bosch den Artenschwund stop­
pen. Dazu wollen sie Proben von indigenen Menschen sammeln
und sie in einem Bunker in der Schweiz verwahren. »Wir müs­
sen den verschwindenden Reichtum an Mikroorganismen
schnellstmöglich sichern«, so Bosch. »In der mikrobiellen Diver­
sität steckt der Schlüssel, um zivilisatorisch bedingte Krank­

heiten wie Diabetes, Morbus Crohn oder andere chronische Ent­
zündungskrankheiten künftig behandeln und heilen zu können.«
Viele Bakterienstämme sind schon in Biobanken hinterlegt,
jedoch ist das nur ein einseitiger Ausschnitt, so eine aktuelle Stu­
die. Demnach stammen mehr als 71 Prozent der verfügbaren
Proben von Einwohnern der Vereinigten Staaten, Kanadas und
Europas, obwohl diese nur etwa 14 Prozent der Weltbevölke­
rung ausmachen.
Die Auswahl erfasst den verarmten Bestandteil des Mikro­
bioms; bei Einwohnern von Industriestaaten ist offenbar die
Hälfte der Artenvielfalt bereits verloren. Antibiotika können zwar
Leben retten. Aber sie töten nicht nur krank machende Erreger
ab, sondern auch die guten Bakterien. Viele Darmbakterien ver­
tragen keine industriell verarbeitete Nahrung. »Die Ernährung
ist in den vergangenen 70 Jahren pflanzenärmer und fleischlasti­
ger geworden, aber sie wird vor allem mit Zucker versetzt«, sagt
Bosch. »Die einen Mikroben können damit vielleicht umgehen,
aber wir lassen all die anderen verschwinden.« Indigene Men­
schen dagegen könnten noch über ein unverfälschtes Mikrobiom
verfügen. Forschende sammeln bereits von Jägern und Samm­
lern in Amazonien Abstriche vom Stuhl. Die Proben sollen der­
einst die Leiden von Wohlstandsbürgern kurieren. Jörg Blech

Aitor De Iturria / AFP

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